17. April 2015

Nicht, um Erfolg zu verbuchen

Von nst1

Lehrer aus Berufung, das war Sepp Kral – und das hört mit der Pensionierung nicht einfach auf.  So hat er zusammen mit seiner Frau Gisela eine 16-jährige Afghanin über acht Jahre bis – fast – zur Matura begleitet.

Mehr als 30 Jahre war Sepp Kral mit Begeisterung Lehrer an einer Sonderschule in Salzburg – und er hat seine Arbeit bis zum letzten Tag „wahnsinnig gern gemacht“. So gern, dass eine Kollegin, die eine Arbeit über Burnout bei Lehrern schrieb, ihn als Modell hernahm, dass einer bis ins Alter engagiert sein kann und trotzdem kein Burnout haben muss. Und so gern, dass er nicht zögerte, als nur wenige Tage nachdem er 2003 in Pension gegangen war, seine ehemalige Direktorin bei ihm anrief: „Bei ihr in der Kanzlei stehe ein 16-jähriges Mädchen aus Afghanistan. Sie wolle endlich zur Schule gehen und dann Ärztin werden.“

Der heute 69-Jährige erinnert sich noch gut, was die Kollegin ihm schilderte: Nasrin 1) war ein Jahr zuvor in Österreich angekommen; nach Umwegen über Russland und andere Länder war sie in Salzburg endlich wieder zu ihrer Familie gestoßen, die auf unterschiedlichen Wegen aus Afghanistan geflüchtet war. Nach einem Jahr Deutschunterricht wollte Nasrin nun unbedingt mehr lernen. Sie hatte es schon an anderen Schulen probiert. „Aber mit 16 und fast ohne Vorkenntnisse kann keine Schule in Österreich sie aufnehmen. Da kam die Direktorin auf die Idee, mich anzurufen.“

So kam es, dass Sepp Kral sich tags darauf wieder in seine ehemalige Schule begab. Der Lehrer wollte erst einmal testen, was das Mädchen konnte.

„Ich bat sie, ein Dreieck zu zeichnen. Aber sie hatte noch nie ein Lineal in der Hand gehabt.“ Dem erfahrenen Pädagogen war sofort klar: Wenn, dann mussten sie wirklich bei Null anfangen. „Aber sie war so eifrig und lernbegierig. Ich konnte gar nicht anders.“ Und mit der Zeit würde man sehen. Sie trafen sich zunächst jeden Morgen in der Schule. Bald vertagten sie den Unterricht aber zu Familie Kral nach Hause: „Wenn da nicht meine Frau gewesen wäre, hätte Nasrins muslimische Familie das junge Mädchen sicher nicht zu mir kommen lassen.“

Obwohl Sepp Kral über viel Erfahrung verfügte – das war jetzt etwas ganz anderes! Sie fingen mit Mathematik an. Auch weil das mit der Sprache einfacher war. „Nasrin konnte zwar ein wenig multiplizieren und dividieren, aber mit einer ganz anderen Methode als wir.“ Sie musste vieles neu lernen. Aber auch Sepp Kral. Eine Schülerin mit 16 auf Prüfungen vorzubereiten ist anders, als mit sechsjährigen zu beginnen. „Da kannst du nicht über kindliche Umwege wie in der 2. Klasse kommen.“ Und so hatte Sepp Kral auch bei der Vermittlung der Grundkenntnisse immer schon den Stoff im Blick, der später darauf aufbaute. Er versuchte, sich auf seine Schülerin einzustellen. Etwa als es um geometrisches Zeichnen ging. Um der jungen Muslima entgegenzukommen, kam ihm der Gedanke, den Felsendom von Jerusalem zu zeichnen. Das in eine geometrische Aufgabe zu verwandeln, war aber auch für Sepp Kral aufregend. „Als ich dann vorschlug, dass sie das am nächsten Tag auch noch kolorieren könnte“, erzählt er, „hat Nasrin vor lauter Vorfreude gar nicht geschlafen. Sie hatte das noch nie gemacht.“

In den ersten Monaten trafen sie sich nahezu täglich. Über den Eifer und die Ernsthaftigkeit seiner Schülerin staunt Sepp Kral nach wie vor. Nasrin kam meist mit dem Fahrrad, 12 Kilometer bis zu Krals. Um 8, spätestens um 9 Uhr legten sie los, bis zum Mittagessen. Dazwischen bereitete Gisela Kral eine Tee-Pause vor. Nach und nach schöpfte Nasrin Vertrauen, „vor allem zu meiner Frau“; sie kamen ins Reden. Krals lernten so eine für sie ganz neue Welt kennen: das Land, Gewohnheiten, Traditionen, die Schönheit des muslimischen Glaubens, andere Gepflogenheiten. „Wir tun immer so, als wären wir der Mittelpunkt der Welt“, wurde Sepp Kral dabei bewusst. So wunderten Krals sich, dass Nasrin sehr langsam aß. „Bis wir merkten, dass sie nicht mit Messer und Gabel essen konnte. Bei ihnen aß man alles mit dem Löffel oder der Hand“, erklärt der Salzburger. „Das wäre für uns ein Unding und alles würde uns auf die Finger tropfen. Aber sie kann das perfekt und alles bleibt sauber.“

Bei ihren Gesprächen mit Gisela Kral öffnete sich die junge Afghanin immer mehr, erzählte von schrecklichen Dingen, die sie als Kind in ihrer Heimat gesehen hatte.

Das hatte hin und wieder auch Auswirkungen auf ihre Konzentrationsfähigkeit – „sogar die primitivsten Dinge hat sie manchmal nicht mehr verstanden.“ Und weil Sepp Kral keine Erfahrung mit traumatisierten Menschen hatte, versuchte er es zunächst wie bei seinen Schülern: „Denen musste ich immer Druck machen, damit sie mir nicht aussteigen. Aber sie konnte einfach nicht.“ Weil Nasrin dann aber meinte, ihrem Lehrer etwas schuldig zu sein, brachte sie ihm am nächsten Tag Früchte oder Selbstgebackenes  mit, „quasi zur Versöhnung. Das blieb mir dann fast im Hals stecken, weil sie mir so leid tat.“ Es war ein gemeinsamer Lernprozess.

Zu Mathematik kamen nach und nach andere Fächer hinzu. Nach einiger Zeit war Nasrin so fit, dass sie als Externistin in die vierte Klasse Hauptschule 2) einsteigen konnte. Nach einem Jahr schloss sie diese mit lauter Einsern ab. Weil sie Sepp Kral nicht ausnutzen wollte, besuchte sie dann die Abendmittelschule. Trotzdem blieben Krals und Nasrin im Kontakt. „Als sie mich zu meinem Geburtstag besuchte, merkte ich, dass es Probleme gab“, erzählt Sepp Kral. „Zu Latein fehlte ihr offensichtlich jeder Zugang und auch in Mathematik sah es schlecht aus.“ Also arbeiteten Sepp Kral und Nasrin wieder weiter.

Hin und wieder luden Nasrins Eltern Krals ein. Einmal zu einem Fest, dass sie mit einer anderen afghanischen Familie organisiert hatten, um so die zum Teil untereinander verfeindeten Gruppen von Afghanen in Salzburg zusammenzubringen. „Wir freuten uns sehr darüber. Es war, als wollten sie uns damit zeigen, dass sie unser Bemühen um Integration schätzten und selbst auf ihre Weise dazu beitragen wollten.“

„Es waren schöne, reiche acht Jahre“, unterstreicht Sepp Kral. Inzwischen hat Nasrin in allen Fächern die Matura-Prüfungen erfolgreich abgeschlossen, „sogar in Deutsch! Sie war so glücklich, als sie uns das erzählte.“ Ihr fehlt nun nur noch Englisch. „Und das ist gar nicht mal das Schwerste für sie, denn sie musste es auf der Flucht schon lernen und sprechen.“ Aber seit einigen Monaten hat sich Nasrin nicht mehr gemeldet und auch auf Anrufe nicht mehr reagiert. „Wir wissen nicht, was los ist“, berichtet Sepp Kral. Sie können nur vermuten – dass sie die Prüfung nicht mehr macht und sich deswegen schämt; dass  sie vielleicht verheiratet wurde; oder … Sepp Kral erzählt das trotz allen Engagements mit einer gewissen Nüchternheit.

„Eine schöne Matura-Feier  haben wir nicht vorzuweisen. Und trotzdem war eine sehr schöne Zeit!“

Auf die Frage, ob das nun nicht ganz schön hart sei, fügt er hinzu: „Na ja, es ist das Leben! Und wir haben es ja nicht getan, um einen Erfolg zu verbuchen. Dann wären wir jetzt gescheitert. Wir haben es getan, weil wir den Eindruck hatten, dass Gott es von uns wollte. Das allein zählt! Und die bereichernde Erfahrung, die wir gemacht haben, bleibt uns trotzdem.“
Gabi Ballweg

1) Name von der Redaktion geändert
2) In Österreich gibt es für Personen, die keine Mittelschule besucht oder diese abgebrochen haben, die Möglichkeit einer Externistenmatura. Dabei kann man die Prüfungen Fach für Fach ablegen.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2015)
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