11. März 2016

„Sie haben uns viel zu geben!“

Von nst1

Drei Wochen lang besuchte eine Delegation des Zentrums der Fokolare den indischen Subkontinent: Gelegenheit für ein paar Streiflichter auf das Leben einer christlichen Gemeinschaft in dieser für uns im Westen so fremden Welt.

Foto: (c) Ulrike Comes

Foto: (c) Ulrike Comes

Mit europäischen Maßstäben ist Indien nicht fassbar. Auch Fokolar-Präsidentin Maria Voce stellte sich auf die Begegnung mit einer „geheimnisvollen Wirklichkeit“ ein, als sie am 15. Januar zusammen mit dem Kopräsidenten Jesús Morán und einigen Begleitern des Zentrums der Bewegung zu einem Besuch im Subkontinent aufbrach. Als die Delegation am 10. Februar zurückkam, hatte sie 16 000 Kilometer zurückgelegt, Neu-Delhi, Bangalore, Coimbatore, Trichy und Mumbai besucht: „Es war die Begegnung mit etwas ganz Tiefem, Großem, völlig Unbekanntem“, beschrieb Maria Voce ihren Reiseeindruck und Jesús Morán meinte: „Dieses Land weckt die Sehnsucht nach dem Absoluten, nach tiefem geistlichen Leben.“

Foto: (c) CSC

Foto: (c) CSC

Mit über 1,2 Milliarden Einwohnern ist Indien eines der am dichtesten besiedelten Länder der Welt. Die ersten Fokolare kamen vor 35 Jahren an, heute haben sie Zentren in Mumbai, Bangalore, Goa und der Hauptstadt Neu-Delhi. Größere lokale Gemeinschaften gibt es in weiteren Städten. Kennzeichnend für Indien ist seine unermessliche kulturelle und religiöse Vielfalt. Rund 80 Prozent der Inder sind Hindus, etwa 13 Prozent Muslime, 2,3 Prozent Christen, 1,9 Prozent Sikhs; ferner gibt es Buddhisten, Jainas, Parsen und Bahai. Im Alltag und im öffentlichen Leben kommt man auf Schritt und Tritt mit religiösen und spirituellen Symbolen und Handlungen in Berührung.

Foto: (c) CSC

Foto: (c) CSC

Die Angehörigen der Fokolar-Bewegung in Indien sind weitgehend katholisch. Ihre Spiritualität, die auf der Liebe des Evangeliums beruht und auf Einheit und weltweite Geschwisterlichkeit ausgerichtet ist, eröffnet ihnen in diesem Land jedoch den Weg zu einem breiten interreligiösen Dialog. Sie setzen dabei auf die sogenannte Goldene Regel, die es in allen Religionen gibt: „Dem anderen nichts antun, was du nicht willst, was man dir antut.“ Als Fokolargründerin Chiara Lubich 2001 Indien besuchte, sagte sie dazu in einem Interview mit Radio Vatikan: „Dialog führen bedeutet vor allem, sich auf die gleiche Stufe zu stellen, nicht zu meinen, dass man mehr oder besser ist als die anderen. Man muss offen sein, sich anhören, was der andere in sich trägt und alles beiseite lassen, um sich in ihn hineinzuversetzen. Anschließend bittet man ihn natürlich, dass er auch uns anhört. So erkennt man die Elemente, die man gemeinsam hat und spricht sich ab, sie miteinander zu leben. Das ist der konkrete Dialog.“

Einen vertieften Dialog führt die Bewegung in Indien vor allem mit hinduistischen Erneuerungsbewegungen, die sich auf Gandhi berufen, und auf intellektueller Ebene in Symposien mit Vertretern verschiedener Religionen.

Beide Dialogformen gründen auf langjährigen persönlichen Freundschaften. Besonders empfänglich – und das zeigten auch verschiedene Begegnungen im Rahmen der Reise der Delegation aus Rom – reagieren die Dialogpartner dabei dann, wenn etwas von der Mystik des Christentums aufleuchtet.

Foto: (c) CSC / Fokolar-Bewegung Indien

Foto: (c) CSC / Fokolar-Bewegung Indien

„Sarvodaya“ heißt „Wohlstand und Entwicklung für alle“ und bringt die gesellschaftliche Zukunftsvision von Mahatma Gandhi zum Ausdruck. „Eine Gesellschaft ist gut, wenn auch der Letzte und Kleinste Zugang zu einem würdevollen Leben hat.“ Aus dieser Überzeugung rief 1986 das Ehepaar Aram gemeinsam mit anderen Anhängern Gandhis das Projekt „Shanti Ashram“ in Coimbatore im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu ins Leben. Seit Jahren arbeiten sie mit den Fokolaren in sozialen und kulturellen Projekten zusammen. Friedenserziehung und Konfliktprävention, Schulbildung und Gesundheitserziehung sind gemeinsame Ziele. Eines der gemeinsamen Projekte ist „Bala Shanti“. Ziel bei der Gründung 1991 war, Kindern aus sozialen Randgruppen das Überleben und langfristig einen Zugang zu Schulbildung und damit zu gesellschaftlichem Aufstieg zu ermöglichen. Heute unterstützt das Projekt Tausende von Kindern in 17 Dörfern und bindet sie gleichzeitig in den Kampf gegen die Armut mit ein.

Foto: (c) CSC / Fokolar-Bewegung Indien

Foto: (c) CSC / Fokolar-Bewegung Indien

Zum Bildungsprogramm des „Bala Shanti“ gehört seit 2006 auch ein Kinderparlament: 800 Jungen und Mädchen zwischen sechs und 18 Jahren treffen sich regelmäßig, um über Themen zu sprechen, die sie direkt betreffen, wie Hygienemaßnahmen, Erziehungsfragen und Schulbildung, Sozialverhalten und Dienst an der Gemeinschaft. Eine der jüngsten Initiativen ist eine Bank von Kindern für Kinder. Gegründet im Mai 2013, soll sie Kindern den Wert des Sparens und der Finanzplanung vermitteln. Außerdem helfen die Kinder durch einen Teil ihrer Ersparnisse Altersgenossen, die noch ärmer sind als sie.

Gemeinsames Bäume pflanzen. Foto: (c) CSC / Fokolar-Bewegung Indien

Gemeinsames Bäume pflanzen. Foto: (c) CSC / Fokolar-Bewegung Indien

Der Besuch der Delegation vom Weltzentrum der Fokolar-Bewegung bot Gelegenheit, den zurückgelegten Weg gemeinsam zu reflektieren und zu bewerten. Als wesentliche Merkmale unterstrichen alle Beteiligten dabei die Vielfalt des Dialogs: kulturelle, soziale und geistliche Aspekte haben wichtige Etappen markiert und in die Tiefe und Breite geführt. Neue Pläne wurden geschmiedet, der Wille zur weiteren Weggemeinschaft feierlich festgehalten und bestärkt.
Indien ist ein Land extremer Gegensätze. Trotz boomender Zentren wie Mumbai, Neu-Delhi oder Bangalore mit enormen technischen Entwicklungen leben immer noch fast 60 Prozent der Gesamtbevölkerung, rund 750 Millionen Menschen, von umgerechnet weniger als zwei US-Dollar pro Tag.  Gleichzeitig ist Indien ein junges Land: 30 Prozent der Bevölkerung ist noch keine 14 Jahre alt. Der Altersdurchschnitt liegt bei knapp 27 Jahren.

Foto: (c) CSC

Foto: (c) CSC

Soziale Projekte sind in diesem Kontext sichtbarer Ausdruck authentischer Nächstenliebe. Eines der größten Projekte der Bewegung gibt es seit den 1990er-Jahren in Trichy, 200 Kilometer von Coimbatore. „Ilanthalir“ heißt es und der tamilische Name bedeutet „zarte Triebe“. „Wenn wir uns um die Kinder kümmern, helfen wir auch den Familien.“ Aus dieser Grundüberzeugung hat ein Priester zusammen mit zwei Freunden zunächst 50 Kinder durch Patenschaften unterstützt. Weil ihre Familien arm sind, müssen die Kinder arbeiten und können nicht zur Schule gehen. Patenschaften sichern ihnen die Grundversorgung und ermöglichen den Schulbesuch. Das Projekt wuchs schnell. Heute erfasst es Hunderte von Minderjährigen; gemeinsam bilden sie eine lebendige Gemeinschaft, die auf der Basis des Evangeliums lebt und für alle offen ist. Die gesellschaftliche Tragweite beeindruckt: Von den ehemaligen Schülern haben 90 Prozent eine feste Arbeit (als Lehrer, Krankenschwestern, Techniker oder Ingenieure), etwa 300 ein abgeschlossenes Studium.

„Udisha“ (sanskrit: „Lichtstrahl“) heißt ein Projekt in Mumbai. Derzeit erfasst es etwa 2400 Kinder, Jugendliche und ihre Familien in den Elendsvierteln der Metropole.

Foto: (c) CSC

Foto: (c) CSC

„Du kannst dich abwenden, wenn du von den Problemen eines anderen erfährst, oder du kannst sie dir zu Herzen nehmen. Für eine Bewegung, die sich dafür entschieden hat, den gekreuzigten Christus zu bevorzugen, ist es logisch, sich dieser Probleme anzunehmen“, schrieb eine junge Journalistin aus Mumbai über diesen Einsatz. Brian D’Silva, Mitarbeiter der ersten Stunde, unterstreicht: „Wir versuchen, jeden Tag mehr Familien zu erreichen. Dabei sind wir uns bewusst, dass es immer um Jesus geht, dem wir in den Menschen dienen.“
„Santacruz“ begann 1992, ebenfalls in Mumbai, als Antwort auf die prekäre Situation der Familien, die mit Armut, Drogen und Arbeitslosigkeit kämpfen. Joan Viegas, eine der Pioniere des Projektes, erläutert: „Mit der Zeit haben wir gemerkt, dass neben der materiellen Hilfe auch geistliche Hilfe nötig war. So haben wir Gruppen gebildet, in denen man sich über das Leben nach einem monatlichen Wort aus dem Evangelium austauscht. Vor allem Mütter nehmen daran teil. Sie brauchen dringend einen Raum, wo sie miteinander sprechen, ihre Probleme teilen und neue Kraft schöpfen können.“ Familienseminare zur Geburtenplanung oder zum Umgang mit Geld ergänzen das Programm.

Foto: (c) Fokolar-Bewegung Indien

Foto: (c) Fokolar-Bewegung Indien

Der jahrelange Dialog, die persönlichen Freundschaften und die konkrete Zusammenarbeit mit hinduistischen (Massen-)Bewegungen eröffnen Dimensionen, die uns in Europa den Atem verschlagen. Unvorstellbar, was passieren wird, wenn Tausende so konkrete Nächstenliebe üben. Und man ahnt nicht nur deshalb: Indien hat der Welt viel zu geben!
Gabi Ballweg

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2016)
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