21. April 2016

„Wir sind mehr als Freunde!“

Von nst1

In Berlin entwickelt sich ein lebendiges Netzwerk von Beziehungen mit koptischen Christen aus Ägypten. Ein Großteil der Fokolar-Gemeinschaft der Stadt engagiert sich darin.

„Im Kindergarten wollten Kinder nicht mit mir spielen, weil ich Christ bin“, erzählt Emad, 30, aus Kairo. Vor zweieinhalb Jahren floh er nach Deutschland; jetzt lebt er mit Frau und zwei Kindern in Berlin. „‚Er isst Schwein, er riecht wie ein Schwein!’, so redeten einige muslimische Kinder damals über mich. Zu Hause habe ich es heulend meinen Eltern erzählt.“ Das Erlebnis ist lange her. Emad will damit klarmachen, wie es koptischen Christen zuweilen in Ägypten ergeht. Und dass er hergekommen ist, um das seinen Kindern zu ersparen!
Emad ist mit seiner Familie in die Sankt-Joseph-Gemeinde in Berlin-Wedding gekommen. Hier treffen sich Kopten alle zwei Wochen mit Mitgliedern der Gemeinde und der Fokolar-Bewegung. Jeder begrüßt jeden. An den Tischen sitzen Gruppen, die Deutsch üben, Schüler, die Nachhilfeunterricht bekommen. Dazwischen flitzen quirlige Kinder auf Bobby-Cars umher oder vergnügen sich mit anderen Spielen. Lebhaft und herzlich geht es zu. Wer das erste Mal kommt, wird sofort einbezogen.
In Ägypten wurde die Lage für die Kopten 2011 mit dem sogenannten „Arabischen Frühling“, der folgenden Zeit von Präsident Mursi und seiner Absetzung immer schwerer. „Mursis Anhänger, die Muslimbrüder, können uns als Christen leicht erkennen“, sagt Emad und hält sein Handgelenk mit dem tätowierten Kreuz hoch: „Die Männer an diesem Zeichen, die Frauen daran, dass sie kein Kopftuch tragen, und an den Namen.“ Damals war der Schweiß-Fachingenieur auf Großindustrie-Anlagen im Irak tätig. In Ägypten hatte er keine Anstellung gefunden. Und die Schikanen gegenüber Kopten nahmen zu: „Häuser wurden abgefackelt, Autos angezündet, Frauen mit Steinen beworfen.“ Um seine Familie zu schützen und ihr eine neue Zukunft aufzubauen, gab Emad alles auf und flog nach Deutschland.
Zwischen der Fokolar-Bewegung und der kleinen koptisch-orthodoxen Gemeinde in Berlin hatte es schon länger freundschaftliche Kontakte gegeben. Als im Sommer 2013 Nachrichten über brennende Kirchen und erste Flüchtlinge in Deutschland in den Medien auftauchten, lag es nahe, bei der koptischen Gemeinde vorbeizuschauen. „Wir trafen ein Dutzend junge Männer, einige Frauen und Kinder“, berichtet Bernhard Rösch. „Viele konnten Englisch – beim Teetrinken kamen wir ins Gespräch.“ Die Angehörigen der Bewegung erfuhren, dass der Großteil erst seit zwei Wochen in Deutschland und in verschiedenen Heimen untergebracht war. „Schnell stand die Frage im Raum: Was fehlt ihnen, was brauchen sie am nötigsten?“ Bald war die Idee geboren, sich regelmäßig zu treffen, um Deutsch zu üben und sich näher kennenzulernen.
Wie kaufe ich ein? Wie nutze ich S- und U-Bahn? Bei den ersten Konversationsabenden ging es um Alltägliches. „Am Anfang wurde viel auf Deutsch gebetet und gesungen“, erinnert sich Judith Kaliske von der katholischen Gemeinde, in deren Räumen die Begegnungen stattfinden. „Lieder, die musikalisch sicher fremd für die Ägypter sind!“ Die Mutter zweier Kinder im Grundschulalter hat immer einige Bilderbücher dabei, mit deren Hilfe sie über das Leben in Krankenhaus, Schule, Büro, Bank oder auf dem Bauernhof ins Gespräch kommt und so Vokabeln vermittelt. „Die meisten sind jung und motiviert, gebildet, wissbegierig und sehr zuvorkommend.“
Es blieb nicht beim Deutschlernen. Judith Kaliske bekam mit, wie zermürbend es für die Flüchtlinge ist, tagelang vor „dem Lageso“ anstehen zu müssen, dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales. Einem jungen Ehepaar – längst offiziell gemeldet – teilte die Ausländerbehörde mit, die Daten der Frau seien unauffindbar. „Für sie brach eine Welt zusammen! Tagelang haben sie sich um Klärung bemüht. Irgendwann bin ich mitgefahren“, so Judith Kaliske. Dank ihrer Hartnäckigkeit stellte sich schließlich heraus: Bei der Übertragung des arabischen Namens in lateinische Schrift war ein Buchstabe übersehen worden. „Ach, das hatten wir schon ein paarmal“, hieß es aus der Behörde. Warum die Mitarbeiter dann das Paar so lange verzweifelt zappeln ließen, bleibt ein Rätsel.

„Beeindruckend, auf wie viele Schwierigkeiten die Flüchtlinge stoßen und wie sie sich durchbeißen!“

Ralf Kennis, 67, hatte sich nach vierzig Lehrer-Jahren auf den Ruhestand gefreut: Endlich keine Korrekturen mehr, keine Konferenzen, keine Vor- und Nachbereitung des Unterrichts an Wochenenden! Bei den vierzehntäglichen Abenden mit den Kopten erfuhr er, dass einige Kinder und Jugendliche Probleme in Englisch hatten und Nachhilfe suchten: „Obwohl das nicht mein Fach war, sagte ich zu. Aber ich war unsicher, ob ich das zweimal in der Woche bewältigen konnte“, räumt er ein. „Meine Sorge zerstreute sich, als ich sah, mit welcher Begeisterung die Mädchen und Jungen dabei waren und wie schnell sie Fortschritte machten!“ Die Freude am Unterrichten kehrte zurück. Zu den Nachhilfestunden kommen jetzt auch Aussiedlerkinder aus Russland. Alle haben so viel Spaß, dass sie sogar in den Schulferien weitermachen wollen.

Über hundert Personen gehören zu dem Beziehungsnetz, das in den letzten zweieinhalb Jahren entstanden ist.

Bei den regelmäßigen Deutsch-Abenden werden Neuigkeiten ausgetauscht, Freude und Leid geteilt, Nöte weitergegeben: „Wir können aus dem Asylbewerberheim raus. Wo finden wir eine Wohnung?“ – „Unser Kind soll auf eine christliche Schule: Wie stellen wir das an?“ Die koptischen Freunde brauchen Möbel, Kinderwagen, Begleitung zu Behördengesprächen. Mitglieder von Sankt Joseph und ein Großteil der Berliner, die zur Fokolar-Bewegung gehören, helfen mit. Die Kopten zeigen ihre Dankbarkeit durch Vertrauen und Freundschaft, Einladungen zu Festen und eine großzügige Gastfreundschaft.
Hani, 27, ist Fliesenleger. Er kann so gut Deutsch, dass er die Führerscheinprüfung geschafft hat. Die Angst um Frau und Tochter treibt ihn um: Er musste sie in der Stadt zurücklassen, aus der auch die 21 Kopten kamen, die im Februar 2015 in Libyen von der IS geköpft wurden. „Ich habe viel Geld ausgegeben, um sie herzuholen, wurde aber von Schleppern betrogen.“ Kontakt hält Hani über Skype: „Als ich ging, war meine Tochter ein Jahr und sechs Monate alt. Am Anfang hat sie gesagt: ‚Wo bist du, Papa, ich will dich sehen!’ Jetzt ist sie vier und kennt mich kaum noch“, erzählt er betrübt und mit Bitterkeit in der Stimme. Hani bekommt keinen Bescheid zu seinem Aufenthaltsstatus. „Die Asylanträge von Syrern, die später kamen, werden viel schneller bearbeitet: Das ist ungerecht! Auf den Ämtern sagen sie immer, ich muss Geduld haben. Aber wie lange noch?“
Viele Kopten haben ihren Berliner Freunden düstere Erinnerungen anvertraut: Der Optiker, dem der Laden angezündet wurde, der Pizza-Bäcker, dessen Sohn gekidnappt und nur gegen eine hohe Lösegeldzahlung zurückgebracht wurde. Der muslimische Mob einerseits, der das Haus einer koptischen Familie anzünden wollte, die muslimischen Nachbarn andererseits, die sie schützten und das Unheil verhindern konnten. „Ich hatte viele muslimische Freunde“, betont Emad. „Und das ägyptische Militär tut viel, um die Christen zu schützen. Aber die Bedrohung bleibt. Wir sind immer die Letzten, wenn es um Arbeit und Lebensbedingungen geht.“ Was, wenn er kein Bleiberecht bekommt? Daran möchte er lieber nicht denken. Wo sollte er hin? In Deutschland kann er sein Christsein problemlos leben. Dass immer mehr Muslime kommen, macht ihm allerdings Angst. „Vielleicht ist Europa nicht mehr sehr christlich, aber die Kultur ist christlich geprägt. Deshalb fühlen wir uns ja hier so wohl. Bisher jedenfalls.“
Judith Kaliske ist gern mit den Kopten zusammen:

„Ich möchte nicht nur über Flüchtlinge reden, ich will einige persönlich kennen. So kann ich beitragen, dass sie hier ankommen können.“

Dennoch, gesteht sie, bleibt ihr manches fremd, zum Beispiel in der koptischen Kirche: „Das ist schon eine andere Welt.“ Die Fokolar-Gemeinschaft in Berlin erlebt die Freundschaft mit den Kopten als große Bereicherung. Sie bekommen von anderen zu hören: „Damit gebt ihr uns eine tolle Möglichkeit mitzumachen. Ihr wirkt offener und seid wahrnehmbarer geworden.“ Emad beschreibt seine Empfindungen gegenüber den deutschen Freunden so: „Man hilft sich und hat keine Angst, um Hilfe zu bitten. So wie mit meiner Frau: Wenn sie etwas braucht, bin ich gern für sie da. Da redet man nicht von Helfen.“ Sein Resümee: „Wir sind mehr als Freunde: Wir sind eine Familie!“
Clemens Behr

 Die Kopten
… verstehen sich als die christlichen Nachfahren der alten Ägypter. Die Koptisch-Orthodoxe Kirche geht auf den Evangelisten Markus zurück. Oberhaupt ist seit 2012 Papst Tawadros II. Angaben zur Mitgliederzahl schwanken zwischen sechs und 15 Prozent der Bevölkerung Ägyptens, also fünf bis 13 Millionen. Seit dem 18. Jahrhundert existiert daneben die Koptisch-Katholische Kirche mit 200 000 Gläubigen.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2016)
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