22. Juni 2016

Was wir auf den Weg mitbekommen haben

Von nst1

Verhaltensmuster unserer Ursprungsfamilien nehmen wir mit in die eigene Familie. Wie damit umgehen?

Mein Mann und ich kommen aus sehr unterschiedlichen Ursprungsfamilien, die uns natürlich geprägt haben – im Positiven wie im Negativen. Es war uns von Anfang an wichtig, die Familie des anderen kennenzulernen. Das half und hilft uns noch immer, bestimmte Verhaltensweisen, möglicherweise auch „lästige Eigenheiten“ des anderen, besser verstehen zu können. Mir gefällt sehr gut die Aussage von Rino Ventriglia, Psychotherapeut und Neurologe aus Neapel: „Um sich wirklich lieben zu können, müssen wir die Geschichte unseres Weggefährten umarmen, das leidende Kind liebevoll in uns aufnehmen“.1

Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass es möglich ist, bestimmte Verhaltensmuster unserer Kindheit zu verändern. In der Herkunftsfamilie meines Mannes zum Beispiel werden Konflikte durch Schweigen oder Flucht „vermieden“. Das war und ist für mich sehr befremdend. Wir wollten uns eine neue Konfliktkultur erarbeiten. Für mich heißt das immer wieder, meinem Mann den nötigen Raum und die nötige Zeit zu geben, bis er ein Gespräch führen kann. Und ich habe dabei gelernt, wie wertvoll es sein kann, zu warten. Auch wenn es meinen Mann mitunter Überwindung kostet, schafft er es inzwischen immer schneller, über den Abgrund des Schweigens zu springen.

Unser Familienleben trotz der vielen familiären und gesellschaftlichen Einflüsse bewusst zu gestalten, ist eine große Herausforderung. Dabei hilft uns, die Verletzungen in der Lebensgeschichte des Partners anzunehmen, auszuhalten und zu vergeben, wenn wir Fehler machen. Schließlich werden wir die zukünftigen Familien unserer eigenen – derzeit noch kleinen – Kinder und Teenager beeinflussen.
Gertrude Pühringer

1) Ventriglia, „Damit die Liebe lebendig bleibt“, Verlag Neue Stadt 2016

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2016)
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