15. März 2018

Geschwisterlichkeit ist nicht von selbst friedlich

Von nst5

Wolfgang Palaver beschäftigt sich als Theologe und Professor für Christliche Gesellschaftslehre in Innsbruck seit über fünfzehn Jahren mit dem christlich-islamischen Dialog.  Wir fragen ihn: Ist der Dialog biblisch verankert? Was macht ihn aus? Welche Voraussetzungen sind nötig?

Herr Palaver, warum führen Christen Dialog mit anderen Religionen und Nichtglaubenden?
Schon die Bibel bricht das Stammesdenken auf, das heute politisch neu auflebt, die enge Sicht „Wir gegen die anderen“. Ganz deutlich wird das im Gebot der Feindesliebe von Jesus, aber auch in seinem Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Die Zuhörer sahen die Samariter als politische Urfeinde, und Jesus unterläuft ihre Denkmuster.
Bei Jesaja 57,19 heißt es: „Friede, Friede den Fernen und den Nahen, spricht der Herr.“ Auch hier wird das übliche Denken – ich kümmere mich nur um meine Kreise – gesprengt. Darin sehe ich Elemente einer umfassenden Geschwisterlichkeit, die eine ganz wichtige Grundlage für Dialog ist.
Mir fällt auf, dass Papst Franziskus oft den Begriff „universelle Brüderlichkeit“ gebraucht. In der neuen Apostolischen Konstitution „Veritatis gaudium“ über die kirchlichen Universitäten und Fakultäten spricht er von der „Mystik des Wir“ und fordert einen Dialog auf allen Ebenen, eine „Kultur der Begegnung“ mit Vertretern anderer Religionen und Überzeugungen.

Der Begriff Geschwisterlichkeit beschäftigt Sie sehr. Warum?
Demokratien haben eine Neigung zur Homogenität oder setzen sogar voraus, dass alle Mitglieder Ähnlichkeiten haben. Die Schattenseite ist, dass es leicht zu „Säuberungen“ Andersartiger kommt. Dass man sagt, es sollen nur solche wie wir dazugehören. Aber die Gleichartigkeit und die Nähe der Menschen können auch problematisch sein: In der Rivalität unter Geschwistern besteht ein Grundkonflikt menschlichen Zusammenlebens! Wenn Vielfalt Geschwisterlichkeit braucht – im Sinn einer engen, positiven gegenseitigen Beziehung, braucht Gleichartigkeit sie noch mehr. Geschwisterlichkeit ist ein Fundament moderner Demokratien, ist Voraussetzung, Vorbedingung, Tugend, die Demokratie trägt.
Jonathan Sacks, ehemaliger englischer Oberrabbiner, schreibt in dem Buch „Not in God’s name“ über die Religionen und Konflikte heute. Er setzt sie in Bezug zu den Geschwisterrivalitäten im Buch Genesis, zeigt Abgründe und Gefahren auf, aber auch mögliche Lösungen bis zu einer sich leer machenden Haltung, die Voraussetzung für eine gute Geschwisterlichkeit ist: Kain und Abel, Jakob und Esau, Isaak und Ismael, Josef und seine Brüder. Sehr interessant, wie diese Geschwisterpaare – abgesehen von Kain und Abel – nach Jahren des Ringens zu so etwas wie Versöhnung finden.
Nicht die Fremdheit des Anderen ist das Problem, sondern die Nähe des eigenen Bruders. Angesichts dieser Gefährdung ist auch das Charisma der Geschwisterlichkeit, wie es in der Fokolar-Bewegung zum Tragen kommt, zu sehen: als eine Haltung, die heute wichtiger ist denn je, die aber auch angesichts der größten Konfliktpotenziale gelebt werden muss.

„Dialog“ kann vieles bedeuten. Was ist damit im Blick auf unterschiedliche Religionen oder Weltbilder gemeint?
Dialog meint zum Beispiel, erst mal zuhören zu können. Denn nur dann kann ich den anderen Menschen kennenlernen. Mir fällt das banale Bild ein: Der Mensch hat zwei Ohren, aber nur einen Mund. Gut hinhören und mehr hören als reden, mich zurücknehmen können, das sind Voraussetzungen zum Dialog.
Der Mensch ist auf Dialog angelegt. So hat es Martin Buber gesehen, der eine Philosophie des Dialogs entwickelt hat. Kein Mensch ist eine in sich vollkommene, abgeschlossene, selbstgenügsame Einheit. Wir würden verkümmern und gar nicht zum Menschen werden, wenn wir kein „Du“ hätten. Am Dialog führt kein Weg vorbei. Aber es braucht die Bereitschaft dazu. Und die kann man nicht erzwingen. Ich bin auch nicht immer in der besten Dialogstimmung.

Seit einigen Jahren sind Sie Teil einer Gruppe christlicher und islamischer Theologen, die im Sinn der Geschwisterlichkeit Dialog führen. Folgen Sie dabei bestimmten Regeln?
Grundsätzlich gibt es bei allen eine Haltung des Wohlwollens und des Zuvorkommens, eine große Bereitschaft, sich nicht vorzudrängen, aufeinander zuzugehen. Im Laufe der Zeit ist eine Freundschaft entstanden. Es wäre etwas anderes, wenn man auf einer Dialogveranstaltung die Partner zum ersten Mal trifft und ihren Hintergrund und ihre Geschichte nicht kennt. Es muss gegenseitiges Vertrauen wachsen. Das braucht Zeit.
Wir sprechen über Themen, die die Teilnehmer sowieso beschäftigen. Shahrazad Houshmand, islamische Theologin in Rom, hat lange über Maria im Koran gearbeitet; Adnane Mokrani, muslimischer Theologe und Experte für christliche Theologie in Rom, hat uns einen mystischen Zugang zum Islam geöffnet und die Eigenschaften und Namen Gottes erklärt. Der Innsbrucker Dogmatiker Roman Siebenrock ist der Frage nachgegangen, wie Mohammed aus christlicher Sicht als Prophet verstanden werden kann; und ich habe mich mit der Geschwisterlichkeit auseinandergesetzt und das eingebracht.

Neben einem Dialog auf wissenschaftlicher Ebene gibt es noch den Alltag, die Erfahrungsebene. Wie spielen beide zusammen?
Beiden gemeinsam ist die Voraussetzung, dass man die Menschen als Menschen mag und kennenlernt. Wenn wir bei unseren Begegnungen eine Woche zusammen sind, kann das Intellektuelle manchmal ein Hindernis sein, weil die Gefahr eines Konkurrenzdenkens besteht: Wer ist der Beste? Wer weiß mehr? Wir essen miteinander, gehen spazieren, besichtigen etwas. Das ermöglicht einen „Dialog des Lebens“. Das Miteinander-Leben ist – gerade vor Ort – wichtiger als der intellektuelle Dialog, der auch seinen Platz hat, aber auf dieser Basis.

Wo sehen Sie im christlich-islamischen Dialog Hindernisse oder Gefahren?
Jeder Terroranschlag  ist eine Herausforderung. Bei unseren wissenschaftlichen Begegnungen haben wir das erlebt: Der Putsch in der Türkei hat uns damals einen halben Tag lang beschäftigt. Auch in meinem Engagement in der Heimatgemeinde, wo unter 7 000 Einwohnern über 1 000 Muslime leben: Da sind Kurden, konservative Muslime, Mitglieder der Gülen-Bewegung. Wenn dann eine Gruppe die andere als terroristisch ansieht, schlägt das durch bis auf die lokale Ebene. Wenn Leute Angst haben, nicht mehr in die Türkei fahren zu können, geht das ans Eingemachte.
Manche Christen heben zuweilen die Lage ihrer verfolgten Glaubensgenossen in den muslimischen Ländern hervor, um ihre Solidarität zu bekunden. Dabei sollten sie nicht alle Muslime für Gräueltaten verantwortlich machen. Wird nicht zwischen Übeltätern und Gutwilligen unterschieden, treiben Kampagnen leicht einen Keil zwischen Christen und Muslime und erschweren das Zusammenleben noch mehr. Nicht, dass man das Leid der Christen unter den Tisch fallen lässt, sondern: Wer auch immer verfolgt und Opfer von Gewalt wird, soll unsere Solidarität erfahren, unabhängig von seinem Glauben.

Birgt Dialog nicht auch ein Risiko? Die Beziehung zum anderen könnte meinen Standpunkt ins Wanken bringen, mich an meinem Glauben zweifeln lassen.
Immer wenn man sich infrage stellen lässt, verwundbar macht oder zurücknimmt, ist das riskant. Aber konkret habe ich das selbst nie erfahren. Man hat vielleicht Angst, sich aus seiner Komfortzone zu bewegen, Gesichertes beiseitezustellen. Aber wenn man das tut, erfährt man meistens, dass die Angst überflüssig ist. Je gesicherter man in seiner Haltung ist, desto leichter fällt der Dialog. Ringt man selbst noch sehr nach einer Position, dann versucht man sich eher abzugrenzen. Ich habe eher das Gegenteil erlebt: Im Gespräch, in der Auseinandersetzung mit den Muslimen finde ich Stärkung, Vertiefung meines Glaubens.

Manchmal wird Christen im Dialog mit den Muslimen Blauäugigkeit vorgeworfen. Zu Recht?
Vielleicht bin ich für andere das typische Beispiel für jemanden, der völlig verblendet ist. Ich sehe es nicht so. Mir ist es wichtig, gegen eine unterschwellige Islamfeindlichkeit anzugehen. Ich frage mich, ob wir nicht alle Muslime zu stark in eine Ecke stellen. Die Gefahr, dass wir in einer falschen Offenheit nachgeben oder naiv sind, sehe ich nicht so sehr, sondern dass wir uns über andere erheben und einen überzogenen Druck aufbauen.

Was würden Sie jemandem raten, der auf Muslime zugehen möchte?
Bildungsangebote nützen, sich mit dem Islam auseinandersetzen: Zum Beispiel mit guten Büchern wie dem vom US-amerikanischen Katholiken Gary Wills „What The Qur’an Meant and Why It Matters“ (Was der Koran bedeutet und warum das wichtig ist), das es leider nur auf Englisch gibt. Ich rate dringend davon ab, den Koran ohne Anleitung oder Vorbereitung zu lesen: Die Gefahr ist groß, dass man keinen Zugang bekommt und vieles unverständlich bleibt. Neben Büchern können auch erfahrene Leute dabei helfen. Es wird zu wenig versucht, gute nachbarschaftliche Verhältnisse aufzubauen: Sich die Namen merken, zum Geburtstag gratulieren, Muslime mal einladen zu sich, etwas gemeinsam unternehmen: Wer das tut, kann erleben, was echte, spontane Gastfreundschaft ist.

Herzlichen Dank für das Gespräch!
Clemens Behr

Foto: privat

Wolfgang Palaver
geboren 1958 in Zell am Ziller, hat in Innsbruck Religionspädagogik, Germanistik und Politikwissenschaft studiert und in katholischer Theologie promoviert. Seit 2002 ist er Professor für Christliche Gesellschaftslehre, von 2013 bis 2017 war er Dekan der Theologischen Fakultät in Innsbruck. Palaver leitete von 2006 bis 2012 die Arbeitsgemeinschaft „ Religion – Politik – Gewalt “ der Österreichischen Forschungsgemeinschaft.
Er arbeitet in dem von Roman Siebenrock, Dogmatikprofessor und Leiter des Innsbrucker Instituts für Systematische Theologie, geleiteten und 2010 ins Leben gerufenen „ Cluster für den interreligiösen Dialog “ mit. Das ist eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe, die den christlich-islamischen Dialog der Fokolar-Bewegung studiert und untereinander praktiziert.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März/April 2018)
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