27. September 2018

Typisch? Die Welt ist größer!

Von nst5

Ihr Deutschsein hat Ulrike Comes aus Solingen nicht immer positiv gesehen. Erst in Indien hat sich das geändert.

Als Jugendliche dachte ich nicht im Traum daran, mich als Deutsche zu fühlen. Ich war Mensch mit Weltdimension, auf internationalen Kongressen unterwegs, hatte Freunde überall. Deutschsein war peinlich, stand für Pünktlichkeit, Ordnung und Qualität; biedere Begriffe, mit denen ich mein Leben wahrlich nicht beschreiben wollte, und die Nazivergangenheit schwang ja auch immer mit.
Als ich später mit Kollegen in unsere Partnerschule nach Israel flog, hatte ich Respekt. Wir wurden extrem liebevoll aufgenommen. Am ersten Tag gleich eine Präsentation: „Die Geschichte mit dem Schuh“, erzählt von einem KZ-Überlebenden, der in einem Berg Schuhe die seines Vaters entdeckte. Plötzlich war das Argument, ich sei zu jung, um Täterin zu sein, nichts mehr wert. Ob ich wollte oder nicht, in dieser Situation wurde ich dem deutschen Volk zugerechnet. Einige Tage später Yad Vashem, mit jüdischen Freunden. Ich bin wie erstarrt. Haya sieht mich, kommt auf mich zu, umarmt mich – ein Schlüsselmoment: Ich muss dem Grauen, das mein Volk begangen hat, in die Augen sehen; es annehmen, durch diesen Schmerz hindurchgehen; erst dann treffe ich auf der anderen Seite Menschen, die wie ich bereit sind, eine Beziehung der Freundschaft aufzubauen.
Jahre später: Umzug nach Indien; Kulturschock! Plötzlich merkte ich, wie deutsch ich bin: Es ging mir auf die Nerven, dass man sich auf keine Zeitangabe verlassen konnte; dass der Rikscha-Fahrer mich nicht mehr zum Markt brachte, weil er für den Tag schon genug verdient hatte; dass zu den blödesten Zeiten kein Strom, kein Wasser da war … So manche deutsche „Tugend“ hätte mein Leben da sehr vereinfacht. In Indien habe ich mein Deutschsein entdeckt. Aber ich musste mir dessen bewusst sein, um es dann in vielen Situationen beiseitezuschieben, mir klarzumachen: Ich bin Gast. Erst dann fand ich echte Beziehungen, etwa in dem indischen Chor, in dem ich sang.
Ein Highlight: Mein deutscher Chor kam für einen Austausch: gemeinsame Konzerte, Ausflüge und Feiern. Im Sommer drauf waren wir mit dem indischen Chor in Europa. Plötzlich merkte ich, dass ich ein wenig stolz darauf war, Deutsche zu sein. Durch ihre Augen entdeckte ich viel Schönes.
Als ich nach acht Jahren Indien verlassen musste, fiel ich in ein Depressions-Loch, fühlte mich entwurzelt, wollte „nach Hause“. Es hat zwei Jahre und einige Reisen nach Indien gedauert, bis ich mich in Solingen wieder heimisch fühlte. Auch da ein Schlüsselerlebnis: Auf einer Reise nach Indien habe ich plötzlich kapiert, dass es in Ordnung ist, zwei Heimaten zu haben, solange ich mit ganzem Herzen dort agiere, wo ich gerade bin.
Was ich gelernt habe? Ich bin Deutsche, verwurzelt in meiner Kultur und Art, das Leben zu gestalten; ja, ich besitze sogar typisch deutsche Tugenden, und das ist nicht schlimm.

Foto: privat

Aber die Welt ist viel größer. Vieles ist möglich. Vieles ist anders. Und alles ist gut. Jedenfalls an seinem Ort, zu seiner Zeit. Die Herzen der Menschen sind in der Lage, darüber hinauszuwachsen. Jetzt habe ich Freunde in vielen Teilen der Welt, mit denen ich ein Stück Weg und einige Meilen in ihren Schuhen gegangen bin; nicht alle haben mir gepasst, aber alle sind schön.

Ulrike Comes,
geboren 1960 in Essen, ist Lehrerin für Mathematik und Physik an einer Gesamtschule in Solingen. Von 2004 bis 2012 war sie als Lehrerin an der deutschen Schule in Delhi, Indien, tätig.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2018)
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