17. Mai 2019

Vertraute Unterstützer

Von nst5

Welche Rolle spielen Freundschaften in unserem Leben? Ersetzen sie immer mehr die familiären und verwandtschaftlichen Bande? – Im Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler Janosch Schobin, Kassel.

Brauchen wir unbedingt Freunde, Herr Schobin?
Keine Freunde zu haben, senkt das persönliche Wohlbefinden etwas – im statistischen Mittel. Es gibt aber durchaus Leute, die gut ohne Freunde auskommen. Bei uns sagt jede zehnte Person, sie habe keine engeren Freunde.

Wobei Freundschaften in unterschiedlichen Lebensphasen vielleicht auch eine andere Bedeutung haben.
Genau. In der frühen Kindheit sind oft auch die Eltern miteinander befreundet. Das stützt die Freundschaft der Kinder ab. Die Netzwerksoziologie nennt das „triadische Schließung“: Wenn A mit B befreundet ist und B mit C, dann steht auch A mit C in einer Beziehung. In Lateinamerika und Südafrika äußert sich diese Form der Stabilisierung darin, dass Freunde häufig auch Verwandte sind. Bei uns ist das bei etwa neunzig Prozent der engsten Freundschaften nicht so. Je reicher ein Land, je mehr es der westlichen Industriegesellschaft entspricht, desto seltener sind Freunde Verwandte.
Mit der Pubertät entscheiden die Kinder dann eher selbst über ihre Freunde. Die soziale Kontrolle der Eltern wird geringer, die vorher eventuell ein Auge darauf hatten, ob sie zur Familie passen. Rauchen, Trinken, Schule schwänzen, Drogen ausprobieren: Damit weichen Jugendliche von der sozialen Norm ab, brechen in der Gruppe Regeln, um ihre Persönlichkeit zu entwickeln, ihre Identität zu finden. Die Freundschaften sind in dieser Phase häufig sehr intensiv. Ganz allgemein gilt trotzdem: Die meisten Freundschaften sind auf die Bewältigung einer Lebensphase entworfen und laufen dann aus. Anders bei den „ Sandkastenfreundschaften“. Die haben eine biografische Funktion, sind für das ganze Leben wichtig. Das sind Freunde, die wir über lange Zeiträume kennen und die uns deswegen über die Lebensphasen hinweg Rat und Orientierung geben können. So ein Freund ist wie ein Sparringspartner, der in Lebenskrisen zu mir steht und hilft, sie zu reflektieren und wieder herauszukommen.

Wie fangen Freundschaften an? Was bringt Menschen zusammen?
Bestimmte Gelegenheitsstrukturen. In Schulen sitzen zum Beispiel eher Mädchen neben Mädchen und Jungs neben Jungs. Das bedingt, wer wen kennenlernt. Wenn ein Studierender am Studienbeginn zufällig neben einem anderen sitzt, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass beide am Semesterende Freunde sind.
Es hängt auch davon ab, wie extro- oder introvertiert jemand ist: Sozial sehr aktive Menschen lernen in kurzer Zeit viele andere kennen. Auch soziale Grenzmarkierungen spielen eine Rolle: Man befreundet sich eher mit Menschen der gleichen ethnischen Gruppe, vom gleichen Bildungsstand oder sozialen Status. Selbst wenn man persönlich offen ist, jemanden aus einer anderen Gruppe zum Freund zu haben, kann der Druck der Umgebung so stark sein, dass er es verhindert.

Was macht überhaupt eine Freundschaft aus?
Häufig wird Affektivität genannt, starke emotionale Verbundenheit, aber das bestätigt die Forschung nicht. Viele Menschen haben enge Freunde, aber zu keinem eine affektive Bindung. Andererseits gibt es sehr intime Freundschaften, die die Leute selbst nicht als enge Beziehung beschreiben. Viele sagen, Freundschaften kennzeichne ein besonderes Vertrauen. Aber auch andere Beziehungen bauen auf Vertrauen. Die Psychologie definiert Freundschaft häufig als affektive, nicht sexualisierte, nicht verwandtschaftliche Beziehung.
Meine Vorstellung ist: Das Vertrauen in Freundschaften wird durch das Tauschen und Teilen von „Lebenspfändern“ geschaffen. Das Lebenspfand ist ein Symbol, das für die Person steht. Bei archaischen Gesellschaften war das ein Gegenstand, den man getauscht und geteilt hat. Wenn ich den übergeben habe, habe ich mich gewissermaßen selbst ausgeliefert. Blut ist dafür ein Beispiel. Es galt als Sitz der Seele. Man trank es wechselseitig, nahm Teile der Seele des anderen in sich auf. Wer sich an den Treuebund nicht hält, zerstört sein Lebenspfand, geht den sozialen Tod ein.
In modernen Gesellschaften haben private Geheimnisse die Lebenspfänder ersetzt. Das Teilen und Bewahren von exklusivem Wissen übereinander verbindet; es erlaubt, einander Ratgeber zu sein, die sich emotional und affektiv unterstützen. Aber was ich dem anderen von mir verrate, macht mich auch sozial verletzbar.

Wodurch können Freundschaften in eine Krise geraten?
Die Regel ist: Sie laufen eher langsam aus, werden nicht gekündigt, sondern bestehen unterschwellig weiter und können irgendwann wieder aufleben. Viele Leute haben neben ihren aktuellen auch solche ruhenden Freundschaften.
Grund für Trennungen ist klassischerweise Verrat: Wenn zum Beispiel jemand die anvertrauten Geheimnisse an Dritte weitergibt. Oder lässt sich der eine mit dem Ehepartner des Freundes ein, wird das als schwerer Verrat an der eigenen Privatsphäre erlebt. Man hat sich für den anderen angreifbar gemacht und fühlt sich betrogen. Auch wenn Freunde einen Partner finden, kann das die Beziehung gefährden. Der eine muss akzeptieren lernen, dass es jetzt Bereiche im Leben des anderen gibt, zu denen er keinen Zugang mehr haben darf.

Lassen sich Völkerfreundschaften mit Beziehungen zwischen Einzelpersonen vergleichen?
Freundschaft zwischen zwei Personen ist eine moderne Angelegenheit. Lange Zeit war Freundschaft vielmehr eine Beziehung zwischen Gruppen. Freundschaften zwischen Königen oder Repräsentanten sozialer Eliten haben eine ganz eigene Tradition. Diese politischen Repräsentativfreundschaften werden von der Gruppe gesehen und sind für ihre Mitglieder wie eine Eichgröße: Sie zeigen, wie auch sie sich zueinander verhalten sollen. Königsfreundschaften repräsentierten einen Friedensvertrag zwischen Gruppen. Heute gilt das ähnlich; für Frankreich und die BRD waren Präsident Mitterrand und Kanzler Kohl solche Figuren. Da wird eine Freundschaft öffentlich ausgestellt und anhand dessen auch die Beziehung zwischen den Kollektiven reguliert. Auch Städtepartnerschaften haben das Modell der von Eliten vorgelebten Freundschaft in Beziehungen zwischen Einzelnen überführt.

Wie verändern Digitalisierung und soziale Medien Freundschaften?
Freundschaften werden ähnlich wie politische Repräsentativfreundschaften vor Publikum ausgestellt: Sie sind damit nicht mehr rein privat. Mich erinnert das an Freundschaften bei Hofe, die zweckorientiert waren und wo es um Machtbewahrung und Statusgewinn gegenüber Niedrigergestellten ging. Digitale Medien könnten solche Zweckfreundschaften fördern. Vermutlich versuchen viele, das zu überspielen. Politiker unterscheiden stark zwischen Partei- und tatsächlichen Freunden: Mit den Parteifreunden zeigt man sich; von den echten Freunden, vielleicht aus anderen Parteien, erfährt die Öffentlichkeit besser nichts. Möglicherweise entwickeln sich durch die sozialen Medien auch Geheim-Freundschaften stärker. Jedenfalls werden sie die Freundschaftsideale nicht sehr verändern: Dass sie die Beziehungsform beschädigen könnten, die älter als der Gesellschaftsbegriff ist, halte ich für abwegig.

Werden heute, wo Verwandtschafts- und Familienbeziehungen schwächer ausgebildet sind, Freundschaften wichtiger?
Wir haben Personen gefragt: Zu wem haben Sie eine affektive Bindung? Mit wem besprechen Sie wichtige Dinge? Von wem leihen Sie sich Geld? Mit wem verbringen Sie Ihre Freizeit? Die Antworten zeigen, dass Freunde für viele Menschen ihre wichtigsten Unterstützer sind.
Historisch betrachtet, ist es komplizierter. Verwandte starben früh, man heiratete neu, nahm angeheiratete Verwandte auf: Familien lebten stärker in Patchworksituationen als heute. Freundschaft und Verwandtschaft überlappten einander stark, waren oft kaum zu unterscheiden. Mit der Zunahme von Lebenserwartung und Wohlstand änderte sich das. Die Gesellschaft wurde stärker familien- und verwandtschaftszentriert; Freunde spielten eine geringe Rolle. Speziell die Nachkriegszeit war stark auf die Kernfamilie konzentriert. Erst in letzter Zeit richtet sich unsere Gesellschaft wieder stärker auf Freundschaft aus.

Werden wir künftig in der Pflege älterer Menschen auf Freundschaften zurückgreifen müssen?
Darüber müssen wir nachdenken. Denn die Pflegekosten sind hoch, die durchschnittliche Kinderzahl gering, die Menschen werden älter, sind scheidungsbedingt häufiger ohne Partner. Die meisten Menschen wollen sich aber nicht von Freunden pflegen lassen. Die Pflege durch Angehörige hat eine gewisse Tradition. Für Pflegefreunde gibt es dagegen kein Modell. Dafür bräuchte es Erfahrungsberichte, die Menschen müssten darüber ins Gespräch kommen. Filme wie „Ziemlich beste Freunde“ können dazu Anstöße gegeben.
Andererseits machen Freunde schon erstaunlich viel in der Pflege: Einkäufe, Fahrten, Organisatorisches, Behördengänge. Aber kaum direkte Arbeit am Körper. Das ist eine Problematik, die vielleicht neue Wohnformen abfedern werden. Wir befinden uns in einem großen gesellschaftlichen Experiment: In den nächsten 15 Jahren wird sich herauskristallisieren, welche Modelle tragfähig sind. Ein Problem ist auch: Selbst wenn Freunde bereit wären, einander zu pflegen: Es gibt noch keine Handhabe, die ihnen dafür rechtliche Sicherheit bietet.

Ein aufschlussreiches Gespräch, vielen Dank!
Clemens Behr

Foto: (c) Uni Kassel

Janosch Schobin
geboren 1981 in Göttingen, ist in Deutschland, Ecuador und Chile zur Schule gegangen, bevor er in Kassel Soziologie, Mathematik und Hispanistik studierte. Von 2006 an hat er sich am Hamburger Institut für Sozialforschung mit der Soziologie persönlicher Beziehungen beschäftigt. 2013 erschien seine Doktorarbeit „ Freundschaft und Fürsorge. Bericht über eine Sozialform im Wandel“, 2016 sein Buch „ Freundschaft heute“. Aktuell lehrt und forscht Schobin an der Universität Kassel. Seine Schwerpunktthemen sind Soziologie der Freundschaft, Soziale Netzwerktheorie, Vereinsamung, Familien-, Arbeits- und Spielsoziologie.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2019)
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