1. Oktober 2020

WORT DES LEBENS – PLUS

Von nst5

Trost in der Erniedrigung

Lukas, ein Christ der zweiten Generation, schrieb für die Oberschicht, der er als Arzt selbst angehörte. Mit seinem Evangelium verfolgte er unter anderem zwei Ziele:

  • Die Botschaft Jesu und seine Bewegung ist für die ganze Welt bestimmt und findet in der christlichen Kirche ihre Weiterführung.
  • Die Verkündigung des Evangeliums mit seinen sozialen Konsequenzen kann in jedem politischen System gelebt werden und alle sozialen Schichten ansprechen.

In der Beispielerzählung vom Gastmahl, der das „Wort des Lebens“ von Oktober entnommen ist, spricht er das heikle Thema „Sitzordnung“ an, die über die soziale Stellung Auskunft gibt. Er mahnt, diese nicht zur Schau zu stellen oder auf der Durchsetzung entsprechender Privilegien zu bestehen. Lukas nimmt das seiner Leserschaft vertraute Bild und gestaltet es mit dem ins Passiv und Futur gesetzte Verb „wird erniedrigt werden“ so, dass es durchsichtig wird für Gottes zukünftiges wie gegenwärtiges Eingreifen. Er empfiehlt, sich dem Willen Gottes vertrauensvoll auszuliefern, alles von IHM zu erwarten, was auch bedeuten kann, dass ER die Güter und das Lebenswerk eines Menschen vernichtet. Im Buch Hiob wird dieser Gedanke eindrucksvoll veranschaulicht mit dem Ziel, dass Hiob zu einem wachsenden Verständnis seiner selbst, der Welt und Gottes durchstößt: Er erkennt und anerkennt die Größe und Herrlichkeit Gottes.
Im Gleichnis vom Zöllner und Pharisäer (18,9-14) greift Lukas diesen Gedanken auf. Der Zöllner begreift seine Situation Gott gegenüber und demütigt, erniedrigt sich. Er drückt das in Gebärde und Gebet aus, um gerechtfertigt in seinen Alltag zu gehen: getröstet, ermutigt; seine Aufgaben, Rolle und sozialen Status wahrnehmend, mit der Würde der Kinder Gottes.
Gesellschaften sind sozial gegliedert. Da die jüdisch-rabbinische Tradition eine zur Schau getragene Selbsterniedrigung oder entsprechende Praxis ablehnt, bedeutet das Jesuswort zu wissen, dass jeder vor Gott ein Empfangender ist, der gemeinschaftlich verbunden ist, deshalb keinen Grund hat, sich über andere zu überheben, über sie zu urteilen. Vielmehr gilt es, die eigenen „Privilegien“ zugunsten der „Niedergedrückten“ einzusetzen – im Bewusstsein und der daraus erwachsenden Praxis, Geschöpfe des einen Vaters zu sein.
Marie-Luise Fischer,
Plochingen, ist evangelische Schuldekanin i.R.

Literatur
Anton Mayer, Der zensierte Jesus, Olten 1983
Gerhard Knittel/G.Friedrig (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Darmstadt 2019, Bd. VIII, S. 1ff

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2020)
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