7. April 2021

Die Latte liegt hoch

Von nst5

Wie viel nehmen wir im Einsatz für unsere Überzeugungen in Kauf? Alexej Nawalny hat vorgelegt.

„Wie leichtsinnig.“ – „Ganz schön mutig.“ Fast zeitgleich hörte ich diese Reaktionen, als in den Nachrichten berichtet wurde, dass der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny nach seinem fünfmonatigen Aufenthalt in Deutschland auf dem Rückflug nach Moskau war. Die so gegensätzlichen Reaktionen lassen mich seitdem nicht mehr los. Nawalny will für seine Überzeugungen kämpfen und nimmt dafür eine ganze Menge in Kauf. Leichtsinnig? Mutig? Was hat ihn wohl angetrieben? Und wie entschieden trete ich für meine Überzeugungen ein, wie viel würde ich in Kauf nehmen?
Am 20. August 2020 war der russische Rechtsanwalt und Oppositionsführer Opfer eines Giftanschlages mit dem Nervengift Nowitschok geworden. Vermutlich hatten hohe Regierungsebenen diesen in Auftrag gegeben. Auf massives Drängen seiner Familie wurde Nawalny aus dem sibirischen Omsk nach Deutschland in die Berliner Charité ausgeflogen. Er war dem Tod nur knapp entgangen. Erst im September konnte er aus dem Koma geholt werden. Seine Rekonvaleszenz verbrachte er in Deutschland.
Mehrmals hatte er in dieser Zeit angekündigt, dass er in seine Heimat zurückkehren wolle, obwohl er den russischen Präsidenten Wladimir Putin für die Vergiftung verantwortlich macht. Es schien dann, als täten die russischen Behörden viel dafür, dass Nawalny sich seine Pläne noch einmal gut überlegt. 2014 war der Kreml-Kritiker zu dreieinhalb Jahren Haft wegen angeblichen Betrugs verurteilt, die Strafe aber zur Bewährung ausgesetzt worden. Gegen die Bewährungsauflagen habe er verstoßen, hieß es aus Moskau, weil er sich während seiner Zeit in Deutschland nicht persönlich bei den russischen Behörden gemeldet hatte. Zudem begannen die Behörden in einem neuen Fall gegen ihn zu ermitteln; er soll Spendengelder in Millionenhöhe unterschlagen haben, was Nawalny zurückweist. So entstand der Eindruck, dass der Kreml den 44-jährigen Oppositionellen im Jahr der Parlamentswahl sehr viel lieber in Deutschland sehen würde als daheim in Russland.

Hoher Einsatz
Nawalny ist nicht dumm. Er musste im Fall seiner Rückkehr mit allem rechnen. Trotzdem stieg er am 17. Januar in Berlin in ein Flugzeug der Linie Pobeda, was auf Deutsch „Sieg“ heißt, wurde in Moskau noch am Flughafen festgenommen und per Eilentscheid zu 30 Tagen Untersuchungshaft verurteilt.
Alexej Nawalny scheint der Kampf um die Freiheit wichtiger als sein Leben. Wäre er sonst in die Stadt zurückgekehrt, in der Menschen Macht ausüben, die ihn der Indizienlage nach zu vergiften versuchten und nun ins Gefängnis stecken?
Dabei wirkt sein „Wunsch nach Veränderung“ wie ein Kampf gegen Windmühlen. In einem System, das nach Ansicht vieler auch heute noch auf dem Prinzip Angst beruht. Veränderungen sind nur schwer zu erwirken, zu sehr sei das Volk daran gewöhnt, erzählen mir Bekannte, die lange in Moskau gelebt haben. War Nawalnys Rückkehr da nicht eher ein Spiel mit dem Feuer, Selbstüberschätzung oder doch eher Mut? Vielleicht genährt von der Hoffnung, dass seine internationale Bekanntheit ihm einen Schutzschild verleiht?

Illustration: (c) svetolk (iStock)

Obwohl Nawalny in den letzten Jahren einiges in Bewegung brachte, kämpft auch er immer noch gegen schlechte Umfragewerte. Er hat das System der „klugen Abstimmung“ erdacht: Zusammen mit seinem Stab wirbt er dafür, bei Wahlen jene Bewerber zu unterstützen, die die größte Chance haben, den Regierungskandidaten zu besiegen, egal welcher Partei sie angehören. Immer wieder gelang es Nawalny, Menschen zu Demonstrationen auf die Straße zu bringen. Müsste man den politischen Menschen Nawalny in wenigen Worten beschreiben, dann am ehesten wohl so: Einer, der gegen die Elite kämpft. Nawalny will in diesem System, das keine Alternative vorsieht, eine Alternative schaffen. Auch deshalb wollte er zurück nach Russland, weitermachen.
Zumindest nimmt der Kreml ihn wohl ernst; deshalb die ständigen Festnahmen und der Gift-Anschlag. Aber deshalb auch das schärfere Vorgehen gegen alle Kritiker und Gegner. Immer auf der Basis von Einschüchterung und Angst. Sich davon nicht zermürben zu lassen und beharrlich für Veränderung einzutreten, verlangt Mut, Kraft, Entschlossenheit, Ausdauer. Und die unerschütterliche Überzeugung, dass es sich lohnt, für das Angestrebte auch das eigene Leben einzusetzen.
Es liege in der Natur der Russen, auf Herausforderungen und Ablehnungen mit einem trotzigen und beleidigten „Ich will nicht“ zu antworten, sagen mir meine Bekannten. Es könne gut sein, dass Nawalny genau deshalb nach dem Giftanschlag wieder zurück nach Russland wollte: jetzt erst recht. Es sei aber auch nicht unwahrscheinlich, dass Putin genau deshalb nicht zurückkönne angesichts der offensichtlichen Provokation Nawalnys.

Risikobereit
Nawalny nimmt für seine Überzeugungen vieles in Kauf – auch für seine Familie. Seine Frau Julia Nawalnaja wiederholte nach der Landung in Moskau, als ihr Mann gerade festgenommen worden war, die Kernbotschaft der Nawalnys: Wir haben keine Angst, also bitte habt auch keine. Ihr Mann hat sich für seine Überzeugungen entschieden und er weiß, was er damit riskiert – Freiheit, Unversehrtheit. Seine Frau trägt diese Entscheidung mit. Natürlich mache er sich Sorgen um seine Familie, sagte Nawalny dem Spiegel in einem Interview, nachdem er aus dem Koma erwacht war. Was, wenn das Gift in ihrer Moskauer Wohnung platziert worden wäre, wo auch seine Frau und die beiden Kinder leben? Tochter Darja ist 19, Sohn Sachar zwölf Jahre alt. Ob er aus dieser Sorge Konsequenzen ziehe? Nawalny antwortete mit derselben Logik, nach der er immer wieder fast alles riskiert: Keinen Widerstand zu leisten gegen dieses System, das Menschen für ihre Meinung wegsperrt, bringe alle langfristig noch mehr in Gefahr.
Daraus spricht auch der Wunsch, nachfolgenden Generationen ein besseres Russland zu überlassen. Natürlich weiß ich nicht, was das für die Kinder bedeutet; was es ihnen und ihrem Vater ausmachte, dass am vorletzten Januar-Wochenende erstmals auch Julia Nawalnaja festgenommen wurde, als Demonstranten in vielen russischen Städten die Freilassung Nawalnys forderten. Aber in jedem Fall provozieren sie in mir eine weitere Frage: Wie viel bin ich, sind wir bereit, zu tun und in Kauf zu nehmen, um nachfolgenden Generationen eine bessere Welt zu hinterlassen?
Mir ist klar, dass die Grenze zwischen Leichtsinn und Provokation, Mut und Risikobereitschaft auch bei Nawalny eine Gratwanderung ist. Aber egal wie ich es drehe und wende: Seine Entscheidung nötigt mir Respekt ab. Er setzt sich unerschrocken für ein besseres Russland ein. Auch ich habe mich einmal dafür entschieden, mein Leben für die Geschwisterlichkeit unter allen Menschen zu geben. Angesichts der Konsequenz von Nawalny frage ich mich, ob ich in meinem Einsatz ein wenig lasch geworden bin. Und auch wenn es kein Wettstreit ist: Nawalny hat die Latte ganz schön hochgelegt. Deshalb starte ich neu. Brücken bauen geht (fast) immer – auch unter Corona-Bedingungen.
Gabi Ballweg

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März/April 2021)
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