6. April 2021

Für Gott spielt Perfektion keine Rolle

Von nst5

Mehr als zehn Jahre lang leitete Ulrike Egermann die Band der Jugendkirche im westfälischen Hamm. Sie ist überzeugt: Das Leben in all seinen Facetten muss in der Kirche Raum haben – Dankbarkeit und das Lob Gottes genauso wie die Sorgen und Nöte jedes Einzelnen.

„Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern! So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern!“ Die Anfangszeilen aus dem Lied Jochen Kleppers haben für Ulrike Egermann eine besondere Bedeutung. Über dieses Weihnachtslied hatte ihr Vater, der evangelischer Pfarrer war, kurz vor seinem frühen, überraschenden Tod gepredigt. Ulrike, nichts ahnend, dass es eines ihrer letzten Gespräche mit dem Vater sein würde, hatte sich nach der Predigt für seine Worte bedankt: „Papa, du führst mich zu Gott.“ Das Lied begleitet sie durch die Zeit der Trauer, hilft ihr, die Trennung auszuhalten und in tiefster Dunkelheit daran zu glauben, dass es eine andere, lichtvolle Seite des Lebens gibt. „Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein. Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein“, lauten die nächsten Zeilen des Liedes.

Ulrike Egermann. – Foto: privat

Als ihr Vater stirbt, hat Ulrike gerade in Wuppertal mit dem Theologiestudium begonnen. Wie ihr Vater will sie Pfarrerin werden. Doch das Studium fällt ihr schwer in ihrer Trauer. Und der stark wissenschaftliche Zugang zum Pfarrberuf passt nicht zu ihr. Ihr fehlt im Studium die Lebendigkeit und Geistlichkeit, die sie im Elternhaus erlebt hatte. Rückblickend, im Alter von fast fünfzig Jahren, stellt sie fest: „Je älter ich werde, desto stärker spüre ich, wie sehr meine Kindheit mich geprägt hat. Unser Pfarrhaus stand stets offen, viele Leute gingen ein und aus. Das war irgendwie voll anstrengend, so aufzuwachsen, aber auch echt gut im Nachhinein.“ Ihre Eltern vermitteln ihr, wie viele Dimensionen ein Leben in der Kirche eröffnet. Als sie bei ihrem Vater am Konfirmationsunterricht teilnimmt, lädt dieser die Konfirmandinnen und Konfirmanden ein, zum Abschluss jeder Stunde vor dem Altar zu knien und zu beten. „Einerseits war das für mich total peinlich“, erzählt Ulrike, „andererseits habe ich dadurch eine sehr starke Verbindung zu Gott entwickelt. Bis heute trägt mich die Gewissheit, dass ich ihm alles anvertrauen kann.“
Die junge Studentin engagiert sich in der christlichen Jugendarbeit. Einige Zeit nach dem Tod des Vaters wechselt sie das Studienfach und schreibt sich für Sozialpädagogik ein. Während dieser Zeit lernt sie Bernhard kennen. Noch während des Studiums heiraten die beiden, ziehen nach Mönchengladbach und bekommen ihr erstes Kind: Johannes. Bald darauf kommt Sohn Christian, ein paar Jahre später Tobias zur Welt. Ulrike möchte in dieser Zeit für ihre Familie da sein. Aber sie möchte auch arbeiten und stellt sich die Frage, wie ihre berufliche Zukunft aussehen könnte. Nun kommt ihr musikalisches Talent zum Tragen. „Zu Hause, als Kinder, haben wir viel musiziert. Als Pfarrerstochter war es klar, dass ich Flöten- und Klavierunterricht nehme“, berichtet sie. Während dieser Zeit gibt es in der Gemeinde ihres Vaters eine junge, unkonventionelle Kantorin. „Die mochte ich sehr, und ich fand sie echt cool.“ Ulrike verbringt gerne Zeit mit der Kantorin, nimmt bei ihr Orgelunterricht und tritt schon mit 15 Jahren ihre erste Organistenstelle an.
Die Kantorin ermutigt Ulrike, neben der Schule eine Ausbildung zur C-Kirchenmusikerin zu machen. Das ist eine Herausforderung für die Schülerin, nicht nur wegen des großen Zeitaufwands. Hier spürt sie erstmals auch, dass Kirchenmusik enge Grenzen haben kann, dass es in der Lehre oft um richtig und falsch zu gehen scheint. Eine Haltung, die Ulrike heute eher fern liegt. „Für mich ist das Allerwichtigste, dass die Musik lebt und Ausdruck der Musizierenden ist“, betont sie. „Für Gott spielt reine Perfektion keine große Rolle, denke ich. Er freut sich, wenn wir auch durch die Musik unser Innerstes ausdrücken.“

Foto: (c) Evangelische Jugendkirche Hamm

Ulrike beginnt, in ihrer Kirchengemeinde in Hamm, wo die junge Familie inzwischen lebt, als Kirchenmusikerin zu arbeiten. Sie lernt, aus sich herauszugehen – nicht nur hinten an der Orgel zu sitzen, sondern vorne am Klavier in Kontakt mit den Menschen zu treten. Sie singt am Mikrofon mit, weil sie erlebt, dass die Gemeinde sich dann einfacher in das Lied einklinken kann. Wer heute mit ihr spricht oder sie in einem Gottesdienst erlebt, kann sich nicht vorstellen, dass ihr das einmal schwergefallen sein soll.
Ulrike wächst mehr und mehr in ihre Aufgabe hinein, gestaltet besonders gerne Kinder-, Jugend- und Familiengottesdienste mit. 2006 bekommt Hamm einen neuen Superintendenten: Pfarrer Rüdiger Schuch, den Ulrike noch aus dem Theologiestudium kennt, übernimmt die Leitung des Kirchenkreises. Er hat einen besonderen Wunsch: Die jungen Menschen sollen sich in den Gottesdiensten wohlfühlen. Sein Anliegen fällt auf fruchtbaren Boden. Schnell wird ein Open Space gegründet, ein Veranstaltungsformat, bei dem unterschiedlichste Menschen offen und ohne strenge Vorgaben gemeinsam über ein Thema nachdenken und Ideen entwickeln. Ulrike ist begeistert und macht mit. Ihr Schwerpunkt: die Musik im Gottesdienst.
Aus dem Open Space entsteht das Team der Evangelischen Jugendkirche Hamm. Es beginnt, in verschiedenen Gemeinden Jugendgottesdienste anzubieten. „Diese Gottesdienste waren krass anders als das, was die Jugendlichen bisher kannten“, erzählt Ulrike. „Wir haben zwar die liturgischen Elemente beibehalten, sie aber völlig frei ausgestaltet und bei der Vorbereitung ganz viele junge Leute einbezogen.“ Verschiedenste Ausdrucksweisen und Medien haben in den Jugendgottesdiensten Platz: Theater, Tanz, Kunstaktionen, Filme … alles ist erlaubt. Mit ihrem Mann und einigen Jugendlichen gründet Ulrike eine Band, die populäre Musik in die Gottesdienste einbringt. Die Reaktionen der Gottesdienstbesucher sind überwältigend. Nicht nur die Jugendlichen, auch ihre Eltern und Großeltern lernen Kirche auf ganz neue Weise kennen. „Wenn Kirche so ist, dann komme ich gerne!“, ist ein Satz, den das Team der Jugendkirche oft hört. Der Wunsch Rüdiger Schuchs scheint in Erfüllung zu gehen.
Nach vier Jahren macht sich Erschöpfung in der Jugendkirche breit. Die Vorbereitung der Gottesdienste ist sehr aufwendig, der Transport, Auf- und Abbau der umfangreichen Musik- und Technikausstattung kosten viel Energie. Das Team spürt, dass die Zeit reif ist für etwas Neues. Ein Wunsch ist es, einen festen Ort zu bekommen: kein schrottiges Gemeindehaus, sondern eine echte Kirche – die Lutherkirche in der Innenstadt von Hamm. Was zunächst unmöglich scheint, wird Wirklichkeit. Die Synode stimmt fast einstimmig dafür und im Februar 2012 wird die Jugendkirche eröffnet. „Das war ein echter Vertrauensbeweis“, sagt Ulrike. Der Kirchenkreis unterstützt ihre Arbeit sehr, lässt dem Jugendkirche-Team freie Hand und stattet es mit den nötigen Mitteln und Personalstunden aus. „Wir haben die Innenausstattung erneuert und eine professionelle Licht- und Tonanlage installiert.“ Der Küster ist ein ausgebildeter Tontechniker, der neben den üblichen Küsteraufgaben während der Gottesdienste für ein perfektes Klangerlebnis sorgt.

Foto: (c) Evangelische Jugendkirche Hamm

Die Jugendkirche erregt Aufmerksamkeit und erreicht viele Menschen, auch über die Grenzen Hamms hinaus. Aber sie hat nicht nur Fans. Ein paar klassisch ausgebildete Kirchenmusiker und traditionelle Kirchenmitglieder sehen Ulrikes Arbeit skeptisch. „Ich habe mit der Zeit festgestellt, dass es zwischen uns einen Konflikt um den Treuebegriff zur Kirche gibt. Viele machen treu das immer Gleiche weiter.“ Ulrike sieht Treue anders: „Ich bin Gott treu und liebe Gottesdienste. In der kirchlichen Gemeinschaft erlebe ich Gott als lebendig, das Leben mit ihm ist voller Spannung und Überraschungen. Dem spannenden Leben mit Gott schenke ich meine Treue. Immer wieder begegne ich Menschen, die auf diese Lebendigkeit reagieren. Ihre Reaktionen geben mir gewissermaßen einen Auftrag, genau so weiterzumachen.“
Authentisch zu sein ist ihr dabei besonders wichtig. Das Leben in all seinen Facetten muss in der Kirche Raum haben: Dankbarkeit und das Lob Gottes genauso wie die Sorgen und Nöte jedes Einzelnen. Mit dieser Haltung trifft Ulrike einen Nerv. Die jungen Menschen etwa, die sich auf die Konfirmation vorbereiten, kommen mit vielen Fragen in die Jugendkirche. Sie fühlen sich hier wohl, finden einen Raum, manche ein Zuhause, in dem sie alles aussprechen dürfen. Für Ulrike sind die Jugendlichen wie Geschwister. Aufmerksam nimmt sie auf, was sie sich wünschen, und hilft ihnen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und in die Gemeinschaft einzubringen.
Als ihr Sohn Johannes Freunde zum Gottesdienstbesuch einlädt, winken die ab: „Kirche ist uncool.“ Johannes ist erstaunt: Die Kirche, die er kennt, ist alles andere als das. Er und seine Brüder sind alle nacheinander in der Band der Jugendkirche aktiv. Für Ulrike ist das etwas Besonderes. Wie die anderen Jugendlichen sind auch ihre eigenen Kinder für sie zugleich Geschwister im Glauben. Gemeinsam mit ihnen weiß sie sich auf dem Weg.
„Mir ist es sehr wichtig, immer offen zu sein für Neues“, erzählt Ulrike. Während ihrer Zeit in der Jugendkirche hat sie eine Ausbildung der westfälischen Landeskirche zur kirchlichen Popmusikerin absolviert und so ihr persönliches Kirchenmusikspektrum erweitert. Gerne nimmt sie Impulse von außen auf. Einer der Jugendlichen der ersten Stunde, Benedikt Preiß, ist Rapper. Für Ulrike ist er ein echter Kirchenmusiker, weil er Worte für die Begegnung mit Gott findet. Und das auf völlig neue Weise. Genauso wie Rap, Pop und Rock liebt sie aber auch klassische Kirchenmusik. Ihr gelingt es, jungen Menschen den Zugang zu traditionellen Liedern zu eröffnen. Manche Konfirmandin findet einen alten Choral ebenso schön wie einen modernen Kirchenpopsong.
Überhaupt hat die Auswahl der Musik für Ulrike einen besonderen Stellenwert. „Ich will möglichst die allerbesten Lieder finden“, erklärt sie. Die Menschen müssen sich ganz in der Musik wiederfinden können. Als sie auf einer Beerdigung einer recht jungen Frau spielt, bedankt sich der Ehemann der Verstorbenen später bei ihr: „An meiner Situation gibt es überhaupt nichts Schönes. Aber so wie Sie Musik gemacht haben und was Sie gespielt haben – das ist etwas Schönes.“
Im September 2020 beendet Ulrike ihre Arbeit in der Jugendkirche. 1 Sie findet, dass es Zeit ist, jüngeren Leuten das Zepter zu überlassen. Um ihre Nachfolge macht sie sich keine Sorgen: „Es gibt so tolle junge Kirchenmusiker aus dem Bereich der populären Kirchenmusik!“ Schon länger wünscht sich Ulrike, für die Menschen zu arbeiten, die im Umfeld der Jugendkirche positive Erfahrungen mit Kirche gemacht haben: die Eltern oder Großeltern der Jugendlichen, aber auch junge Erwachsene. Ihr Aufbruch zeugt von großer innerer Freiheit. Für Ulrike ist es eine Möglichkeit, den Impulsen eines spannenden Gottes zu folgen, der sie weiter führt, als sie es sich selbst vorstellen könnte.
Katharina Wild

Im Youtube-Kanal der Jugendkirche finden sich Aufzeichnungen von Gottesdiensten und Liedern.

Hosanna

Ich hab den Tod geseh’n, doch ich weine vor Glück
Schreib Zeile für Zeile und nehm’ keine zurück.
Denn auf den Gräbern blühen Rosen in rot
vom Gott des Lebens… der Tod ist tot!

Und darum liebe ich dich!
Schreib’ Lieder und wieder ein Liebesgedicht
als Dank, dass du jeden so liebst, wie er ist
und auch die, die dir fern sind, niemals vergisst!

Du trägst uns durch ewigen Schmerz…
Ich schenk’ dir mein Leben und Herz als poetischen Vers.
Durch dich ist Leere nicht leer.
Ich lobpreis’ meinen gnädigen Herrn!

Menschen kommen von nah oder fern
Singen und lieben, lobpreisen den Herrn
Trotzen sogar allem Zweifel und Spott.
Ja, sie selbst sind der Beweis für dich Gott

(Benedikt Preiß, Bene.dict, Jugendkirche Hamm 2013)

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März/April 2021)
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