18. Mai 2021

Meine Heimat

Von nst5

Simone Reich, Bern

Simone Reich, 1957 in Basel geboren, lebt seit 1986 in Bern. Die Sprachlehrerin war bis 2014 an staatlichen Schulen und wechselte dann in die Erwachsenenbildung. Das jüdische Leben ist für sie „nicht nur ein Anhängsel“, es gehört bewusst zu ihrem Leben; sie fühlt sich in der „kleinen, aber aktiven Gemeinde“ Bern sehr wohl.

Von außen betrachtet scheint jüdisches Leben voller Vorschriften und manches könnte man auch als Einschränkung empfinden. Dazu viele Traditionen und eine schwierige Geschichte, die man nicht einfach so vergessen darf. Doch möchte ich kein griesgrämiges, starres Judentum leben. Ich bin stolz, Jüdin zu sein. Das Judentum lebe ich mit Begeisterung; es ist meine Heimat.
Die Traditionen, unsere Feste geben unserem Leben Struktur. Auch unter schwierigsten Umständen haben Juden sie im Lauf der Geschichte gepflegt. Das Judentum ist eine lebendige Religion. Fröhlich, aber nicht naiv. Wir haben unsere Geschichte und die müssen wir kennen, sonst ist auch die Gegenwart verschwommen und die Zukunft gibt es dann vielleicht nicht mehr. Die Traditionen sind Ausdruck unserer Identität. Die darf nichts Verschwommenes aus vielen Dingen sein. Sie muss klar sein. An Pessach erinnern wir uns an den Auszug aus Ägypten: Wir waren Sklaven und sind befreit worden. Das bedeutet für uns eine dynamische Identität, auch heute. Das Judentum ist eine Religion, die mit Wissen zu tun hat – vom Kindergarten bis ins Alter. Aber es geht nicht nur um Kopfwissen, sondern auch um Herzwissen. So lassen wir uns an Pessach ganz in diese Geschichte, in unsere Identität hineinnehmen und leben so das Heute. Unsere Feste sind wie Wegmarken, an denen wir immer wieder vorbeikommen, innehalten, den Kompass ausrichten und weitergehen.
Jüdisches Gemeindeleben ist in diesen Traditionen verwurzelt. Das jüdische Jahr ist geprägt von Festen, die je ihren eigenen rituellen Ablauf haben. Jede Woche ist Schabbat mit den Gottesdiensten am Freitagabend und am Samstagmorgen. Das verbindet, gibt einen Rhythmus.
Natürlich gibt es auch unter uns Juden unterschiedliche Weisen, mit den Gesetzen und Geboten umzugehen. Daraus haben sich verschiedene Richtungen entwickelt, eine bunte Palette von ultraorthodox bis sehr liberal oder kaum noch mit den Regeln vertraut. Diese Vielfalt erlebe ich als inspirierend und bereichernd und besonders intensiv in der Gemeinde, weil wir hier eine Einheitsgemeinde sind. Diese möchte allen ein Zuhause bieten. Dabei kommt dem Rabbiner eine entscheidende Rolle zu. Er hat die Leitung der Gemeinde und ist Experte in Gesetzes- und Rechtsfragen. Er schafft auch Raum für persönliche und gemeinschaftliche Begegnungen.
Ich selbst gebe Religionsunterricht. Die Kinder kommen aus Familien, die religiös verschieden ausgerichtet sind. In einigen wird zum Beispiel koscher gegessen, in anderen nicht. Ich versuche, den Lernstoff so zu vermitteln, dass sich alle willkommen fühlen.
Dem Judentum gegenüber gibt es manchmal klischeehafte Vorstellungen und Vorurteile. Doch als Religion ist es sehr vielschichtig und vielfältig. Sobald man aber die Politik ins Spiel bringt, kann es schwierig werden. Auch ich kann nicht jedem politischen Entscheid aus Israel zustimmen. Manchmal sind mir die komplexen gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen und geopolitischen Zusammenhänge zu wenig verständlich.
Ich persönlich versuche, mich dafür einzusetzen, dass wir Beziehungen leben, in denen alle Geborgenheit und Heimat erfahren können – schalom in einem umfassenden Sinn.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2021)
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