4. August 2021

Myanmars Tragödie

Von nst5

Offener Brief an Min Aung Hlaing

Sehr geehrter Herr Hlaing!

Ihr Land schien auf einem guten Weg! „Von der Militärdiktatur zur Demokratie“ hatten wir im Mai 2012 voller Respekt für den eingeleiteten Wandel als Titel über einen offenen Brief an den damaligen Staatspräsidenten Thein Sein geschrieben. Für viele Menschen in Myanmar lag der Duft von Freiheit und Gerechtigkeit in der Luft. Die Hoffnung wuchs, unter die jahrzehntelange Unterjochung durch das Militär endlich einen Schlussstrich ziehen zu können. Aber seit Februar drehen Sie die Uhr zurück. Sie rissen die Macht an sich, um den vorsichtigen demokratischen Gehversuchen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Damit haben Sie das Land in eine Tragödie gelenkt: Sie führen Krieg gegen die eigene Bevölkerung!
Neuwahlen und Rückkehr zur Demokratie hatten Sie versprochen. Das Gegenteil ist der Fall. Sie behaupten, die Ergebnisse der Parlamentswahlen, die nach Ansicht der EU frei und fair abliefen, seien gefälscht. Die wiedergewählte Regierungschefin Aung San Suu Kyi und Präsident Win Myint ließen Sie festsetzen.
Friedliche Massenproteste zeigten der Welt, was ein großer Teil der Burmesen von Ihrem Eingreifen hielt. Ihre Militärs traten den Demonstranten mit Waffengewalt entgegen. Diese ließen sich nicht abschrecken und gingen weiter auf die Straße. Viele probten den zivilen Ungehorsam und verweigerten die Arbeit, um Ihrem Machtapparat die Finanzierung zu erschweren. Daher zogen Sie die Daumenschrauben fester: Seitdem dringen Sicherheitskräfte in Wohnungen ein, töten oder verschleppen und foltern Unschuldige und erpressen hohe Geldsummen von den Angehörigen, wenn sie ihre Familienmitglieder lebendig wiedersehen wollen.
Seit den 1960er-Jahren hat das Militär einen Staat im Staat aufgebaut. Dessen Mitglieder leben in erstaunlichem Wohlstand, den das eher arme Volk erarbeitet hat: ein System, das Sie nur durch Einschüchterung und Unterdrückung aufrechterhalten können.Jetzt suchen Sie immer neue fadenscheinige Anklagen gegen Aung San Suu Kyi. Mit Gerichtsprozessen wollen sie die 75-Jährige, die bereits zwischen 1989 und 2010 insgesamt fünfzehn Jahre unter Hausarrest stand, endgültig politisch kaltstellen.
Teile der Protestbewegung radikalisieren sich. Ethnische Minderheiten, die seit langem von Ihren Truppen bekämpft werden, organisieren sich in Milizen. Mitte Juni waren nach Informationen der Gefangenenhilfsorganisation AAPP bereits mehr als 850 Menschen getötet und über 6000 festgenommen worden; 200 000 waren der UN zufolge vor den kriegerischen Auseinandersetzungen geflohen. Ihr Land versinkt im Chaos. Hunger und Not werden schon bald die Folge sein.
Ihr Regime vermittelt den Eindruck einer verbrecherischen Junta ohne Moral und ohne Plan für die Zukunft. Dadurch, dass Sie sich jedem Dialog verschließen, isolieren Sie sich immer mehr. Politisch überleben können Sie vorerst nur, weil die Staatengemeinschaft es bisher weitgehend bei verbalen Verurteilungen belässt. Zu Ihren Gunsten und sehr zum Leidwesen der Menschen in Ihrem Land, deren Stimme das einzige Mittel des Widerstands ist. Und auch die droht von Ihrem Apparat noch erstickt zu werden.
Zusammen mit der überwältigenden Mehrheit der Menschen in Ihrem Land fordern wir Sie auf: Stoppen Sie die Gewalt und kehren Sie zurück zur Demokratie!

Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr,
Redaktion NEUE STADT

Min Aung Hlaing
Jahrgang 1956, ist ein General aus Myanmar und Oberbefehlshaber der „Tadmadaw“, der Streitkräfte des Landes. Er hat am 1. Februar 2021 mit einem Staatsstreich die Macht ergriffen. Am darauffolgenden Tag hätte ein neues Parlament vereidigt werden sollen. Bei einer Parlamentswahl im November 2020 hatte die Partei NLD (Nationale Liga für Demokratie) von Regierungs
chefin Aung San Suu Kyi bei einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent die absolute Mehrheit erreicht.
Myanmar (bis 1989 Burma/Birma) ist mit 676 578 km2 Fläche nahezu zweimal so groß wie Deutschland und hat 54 Millionen Einwohner.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2021)
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