3. Februar 2022

„Ich weiß nicht, was für andere gut ist“

Von nst5

Der Coach und Berater Antonio De Stefano

ist überzeugt: Die Lösung für jedes Problem schlummert in einem selbst.

Alles scheint klar. Das Interview am Telefon ist beendet. Ich habe die Pausentaste am Aufzeichnungsgerät gedrückt. Eine Frage stellt er mir noch: „Kennst Du Mario de Andrade und sein Gedicht ‚Meine Seele hat es eilig‘?“ Für mich ist es ein Hinweis darauf, dass ich in dem Gedicht Gedanken finde, die etwas über ihn sagen.

Alle Fotos: privat

Ich kenne weder den Text noch den Dichter. Den Hinweisgeber hingegen, den kenne ich. Sein Name: Antonio De Stefano, Römer mit aktuellem Wohnsitz Köln. Einer aus der Nachkriegsgeneration, den es mit knapp 30 Jahren aus Italien nach Deutschland zog, das Diplom in Soziologie in der Tasche.
Ich finde den Text und bleibe an einer Zeile hängen. „Wir haben zwei Leben“ steht da, „und das zweite beginnt, wenn du erkennst, dass du nur eines hast“. Autor ist Mario de Andrade (1893-1945). Er war Dichter, Schriftsteller, Essayist und Musikwissenschaftler. Das brasilianische Multitalent fährt in seinem Gedicht fort: „Ich habe meine Jahre gezählt und festgestellt, dass ich weniger Zeit habe, zu leben, als ich bisher gelebt habe.“ Eine Erkenntnis, die auch De Stefano gegen Ende seines beruflichen Lebens dazu bewogen haben mag, einige seiner therapeutischen Erfahrungen in einem Buch zu beschreiben.
Der Titel lautet: „Ich habe einen Therapeuten gesucht und einen Realitätenkellner gefunden.“ 1 Es ist ein Lesebuch über Menschen und ihre Grenzerfahrungen. Da ist die Büroangestellte Carina (48). Sie plagen Schuldgefühle. Da ist Toni (43), der das Leben auf der Straße kennt. Da ist Melissa (44), die Schuhverkäuferin, die nach der Arbeit zusammenbricht.
Sie alle haben den Weg zu Antonio De Stefano gefunden, der sich Ende der 1990er-Jahre als Coach in Bonn selbstständig machte. Er hat sie auf seine ganz eigene Art begleitet als „Realitätenkellner“, als jemand, der wie ein Kellner im „Restaurant des Lebens“ verschiedene Gerichte zur Auswahl hat.
„Die Wahrheit ist nur wahr, wenn auch ihr Gegenteil in ihr Platz hat.“
Rudolph Mann

De Stefanos Beruf hat viel mit seiner Geschichte zu tun und seinem Leben im Rom der 1968er-Jahre. Die Gesellschaft ist im Wandel. Konventionen fallen. Die Studentinnen und Studenten gehen auf die Straße, und er ist bei den Protestmärschen für Frieden und Gerechtigkeit mit dabei. „Mir war es wichtig, für etwas zu kämpfen, konstruktiv und aufbauend zu sein“, erinnert er sich. Er kommt mit der Drogenszene in der italienischen Hauptstadt in Kontakt, erlebt, wie gute Bekannte viel ausprobieren und einige ihr Leben verlieren. Die Frage, die sich ihm stellt und ihn bis heute begleitet: „Was kann ich Menschen in Not anbieten?“
Der Stadtteil Trastevere ist damals Treffpunkt für viele junge Leute, die Wege aus ihren Lebenskrisen suchen und Sinn. Wir schreiben das Jahr 1975. Antonio De Stefano macht seinen Zivildienst in einer Beratungsstelle an der Piazza Cairoli ganz in der Nähe der berühmten Piazza Navona, die ein Priester notdürftig eingerichtet hat. Dort trifft er auf junge Leute, die mit allem experimentieren, was der Markt so hergibt von Haschisch bis Heroin wie Patrizia und Arcangelo, ein junges Paar, dem er bei der Renovierung ihrer kleinen Wohnung hilft.

„Ich kannte keine therapeutische Methode damals“, erzählt er rückblickend, obwohl er vier Semester Psychologie studiert hatte. „Was mir schon damals sehr wichtig war, war dieses Gefühl, die anderen sind wichtig. Ich komme nicht als Experte, der weiß, was gut für diese Menschen ist. Und: Ich kann durch Gespräche Vertrauen aufbauen.“
Die „New Generation“ (Gen) – die Jugend-Sektion der Fokolar-Bewegung – hat ihn und sein Werteverständnis ebenfalls geprägt. Im Hier und Jetzt zu leben, spielt dabei eine besondere Rolle – Respekt ebenso. Vieles läuft parallel bei dieser Werte-Entwicklung. „Ich lerne etwas für die Arbeit, und ich lerne etwas für mein persönliches Leben.“
1977 in Köln angekommen, stehen Menschen auf der Suche weiterhin in seinem Fokus. Er ist Begleiter, Zuhörer, Kümmerer und Ratgeber in der Suchtberatung. Als er – Jahre später – Gunther Schmidt begegnet, einem der Pioniere der hypnosystemischen Therapie, macht er sich mit dieser Methode als Berater und Coach selbstständig. Das zugrundeliegende Menschenbild hat es De Stefano angetan: „Menschen wertzuschätzen, wie sie sind, und die Stärken und Fähigkeiten zu entdecken, die sie mitbringen.“
„Die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen.“
Viktor Frankl

Der Umgang mit Problemen, Krankheiten oder sonstigen Schwierigkeiten gehört zum Kern seiner Arbeit. „Es ist wichtig, dem Problem einen Ort zu geben, es zu lokalisieren. Ich frage: ‚Wo spüren Sie das Problem? Im Bauch? Hinter der Schulter, sodass Sie es nicht sehen?‘ Und ich frage: ‚Wäre es angenehmer, wenn die Schwierigkeit woanders wäre, vielleicht vor Ihnen, dass Sie sie besser sehen können und eine andere Seite mit ihr in Kontakt kommen könnte?‘
Manche seiner Klienten nähmen Stimmen in sich wahr, deren Herkunft ihnen zuweilen Angst einflöße. „Ich frage dann: ‚Wo hören Sie diese Stimme, vielleicht im Bauch oder im Kopf oder im Ohr?‘ Und weiter: ‚Kennen Sie den Klang dieser Stimme? Von wem könnte die Stimme sein? Wer könnte da zu Ihnen sprechen?‘“ Auch in diesem Fall ist es das Ziel, „der Stimme“ einen neuen Platz zu geben, sodass sie anschaubar wird und der Betreffende besser mitbekommen kann, wenn diese Stimme sich meldet.

Einen Biber zu fangen, sei einfach, erläutert Antonio De Stefano und spielt dabei auf eine Haltung an, die ihn lange selbst geprägt habe. Biber seien stur. Hätten sie einmal einen Weg im Wasser gefunden, schwämmen sie immer den gleichen Weg. Wolle man sie fangen, genüge es, eine Falle in ihren Weg zu stellen und schon schnappe die zu.
So sei es lange Zeit bei ihm selbst gewesen. Er habe sich mit seinen Gewohnheiten im Leben eingerichtet. Ihm fiel auf, dass dies auch bei vielen andern so läuft. „Wir sind so geprägt, dass wir Gewohnheiten und Fehler immer wiederholen.“
Als er seine berufliche Tätigkeit mehr auf den therapeutischen Bereich ausweitete, entdeckte er alternative Wege, mit Fehlern und Problemen umzugehen. Durch die Neurobiologie lernte er, dass jede Erfahrung bestimmte Zellen im Gehirn anfeuert. Diese Zellen bilden Netzwerke und speichern die Erfahrungen ab. Ob Krankheiten oder nervige Gewohnheiten: Sie sind alle vorhanden und in Netzwerken im Gehirn wie auf einem großen Server abgelegt.
Was vor uns liegt und was hinter uns liegt, sind Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was in uns liegt. Und wenn wir das, was in uns liegt, nach außen in die Welt tragen, geschehen Wunder.“
Henry D. Thorau

„Meine Aufgabe als Coach besteht darin, andere Netzwerke, die ebenfalls gespeichert sind, zum Vorschein zu bringen – gemeinsam mit den Klienten.“
Wenn die Leute mit einem Problem kommen, sind sie in einer Problem-Trance. Sie sehen alles aus dem Blickwinkel dieses einen Problems. Ihr ganzes Leben.
In der Begleitung erfahren Menschen, dass sie in ihrem Leben auch andere Blickwinkel gespeichert haben. De Stefano wird deutlich: „Das Problem – egal welches – verschwindet nicht einfach. Keine Chance. Es bleibt.“ Doch wenn Klienten merken, sie können es sich erlauben, nicht mehr nur in ihrer Problem-Trance zu bleiben, sondern mit mehreren anderen Seiten in ihnen ins Gespräch zu kommen und zu bleiben, können sie sich aus ihrer Fixierung auf das Problem lösen.
Aber warum lösen sich die Probleme nicht einfach so auf? De Stefano: „Weil sie in den Netzwerken im Gehirn gespeichert sind.“ Wenn etwas bleibt, ist es doch klug, sich damit anzufreunden. „Ich würde es so sagen: Die Probleme anerkennen, sie würdigen.“ Aus welchem Grund? „Sie bekommen so eine neue Bedeutung. Sie haben häufig eine wichtige Botschaft. Sie machen Bedürfnisse deutlich. Sie nehmen also eine bedeutende Rolle ein, und diese Rolle behalten sie das ganze Leben.“
Probleme machen Bedürfnisse deutlich. Und dann? „Dann kommt es darauf an, die bedürftige Seite eines Menschen mit anderen Seiten dieses Menschen ‚ins Gespräch‘ zu bringen, damit mit der Zeit ein Gleichgewicht entstehen kann.“
Die Rolle eines „Realitätenkellners“ liegt De Stefano scheinbar sehr. Er habe keine Lösung für die Leute. Viele dächten, da komme der Fachmann und der schaffe ihnen ihre Probleme vom Hals. Das funktioniere nicht.
Seine Angebote seien immer an folgende Gedanken gekoppelt: „Wer hat die Lösung? Wer entscheidet, was gut für ihn ist? Die oder der Betroffene ganz allein.“ Als Berater leitet ihn eine Erkenntnis: „Die Leute bringen ein Problem mit, aber sie bringen auch die Lösung mit. Meine Aufgabe ist es, mit den Klienten daran zu arbeiten, dass sie erkennen, welche Lösung da in ihnen schlummert. Anschließend geht es salopp gesagt darum, Problem und Lösung in Verbindung zu bringen, und schon beginnt das Leben, sich zu verändern.“

„Jeder Mensch ist ‚eigenartig‘. Egal welche Geschichte, welche Kultur, welcher Lebensort. Jede und jeder ist einzigartig. Du kannst dieselbe Intervention machen, aber jede Klientin und jeder Klient reagiert anders.“
Wie wichtig ist ihm Spiritualität? „Sie spielt dann eine große Rolle im Coaching, wenn Menschen sagen, dass Spiritualität für sie sehr bedeutsam ist.“ Sie passe sehr gut in die Arbeit mit den unterschiedlichen Anteilen hinein, die jeder Mensch in sich habe. „Hier kann die Frage lauten, wie könnte deine spirituelle Seite der Seite in dir helfen, die du als problematisch, als mangelhaft empfindest?“
Warum ist er unter die Buch-Autoren gegangen? „Ich wollte am Ende meiner beruflichen Tätigkeit ein Buch schreiben, in dem die Klientinnen und Klienten im Mittelpunkt stehen.“
Wer es liest, der liest von ganz normalen Menschen. Der liest von Anerkennung und Würdigung der Menschen und ihrer unterschiedlichen Themen. De Stefano erzählt noch, er habe mal ein Buch verschenkt. Die Frau habe ihn später angerufen und gesagt, sie läse eigentlich keine Psycho-Bücher. Dann habe sie angefangen zu blättern und festgestellt, das sei kein Psycho-Buch, sondern ein Buch mit Geschichten von Menschen, die ihr etwas sagen würden.
„Deswegen habe ich das Buch geschrieben.“
Hubert Schulze Hobeling

Das Buch umfasst 176 Seiten und ist 2019 im Verlag Neue Stadt erschienen.
Antonio De Stefano: Ich habe einen Therapeuten gesucht und einen Realitätenkellner gefunden! Die hypnosystemische Methode in der Praxis.
ISBN 978-3-7346-1212-1

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2022)
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