2. Februar 2022

WORT DES LEBENS . PLUS

Von nst5

Die Kultur des anderen

Die Weisen, von denen im „Wort des Lebens“ für Januar die Rede ist, waren Suchende. Deshalb sind sie dem Stern gefolgt. Wir haben die italienische Politikerin und Journalistin Luciana Castellina von der „Sinistra Italiana“ (Italienischen Linken) gebeten, über die Suche nach Wahrheit zu schreiben.

Die Suche nach der Wahrheit ist keine Aufgabe, die nur vom Verstand ausgeführt werden kann, sondern die ganze Person einbeziehen muss; nur aus dem gelebten Leben kann man Hinweise darauf finden, was die Wahrheit ist – nicht nur aus den eigenen Gedanken oder denen eines anderen. Deshalb gibt es viele Wahrheiten und nicht nur eine. Ich glaube nicht an absolute Wahrheiten, sondern nur an einen mühsamen Prozess, der sich ihnen nähert, sie erläutert und in den Zusammenhang eines bestimmten Ortes und einer bestimmten Zeit stellt.
So können Wahrheiten auch im Widerspruch zueinander stehen – und in der Geschichte waren sie das fast immer. Es geht darum, sie miteinander in Beziehung zu setzen. Das bedeutet, ihre Vielfalt (Pluralismus) zu akzeptieren, nicht aber, auf Allgemeingültigkeit (Universalismus) zu verzichten und sich stattdessen mit einer schalen Beliebigkeit (Relativismus) abzufinden. Wir müssen gegen die weit verbreitete Vorstellung ankämpfen, die die westliche Kultur und ihr Demokratieverständnis als allgemeingültiges Modell betrachtet, als notwendigen Zielpunkt eines jeden Zivilisationsprozesses. Vergessen wir nicht: Ihre Vorherrschaft baute früher auf kolonialer, heute auf der ebenso vereinheitlichenden Macht der Medien auf.
Eine ebenso große Gefahr besteht darin, das Recht auf kulturelle Vielfalt, das nach hartem Kampf in der UNESCO-Konvention verankert wurde, als das Recht jedes Einzelnen zu verstehen, sich auf seine eigene Kultur zu beschränken und auf die Auseinandersetzung zu verzichten. Menschliche Kulturen sind nicht wie Saatgut und Tiere, die im Namen der biologischen Vielfalt so erhalten werden müssen, wie sie sind; menschliche Kulturen müssen miteinander ringen, sonst verlieren sie ihre Dynamik. Der große palästinensische Intellektuelle Edward W. Said sagte es etwa so: Die Kultur des anderen – seine Weltanschauung, seine Wahrheit – ist eine entscheidende Ressource für die eigene Kultur.
Wir sollten eine Neudefinition des Universalismus anstreben durch einen langen Dialogprozess, der auf gegenseitigem Zuhören beruht. Ganz konkret heißt das unter anderem: Es darf nicht so bleiben, dass die Welt zu 85 Prozent mit Nachrichten aus westlichen Quellen versorgt wird. Sonst werden wir der Wahrheit nicht näherkommen. Ich hoffe, dass wir uns nicht mit den derzeit vorherrschenden Modellen abfinden, nur weil wir noch nichts Besseres gefunden haben. Es ist dringend notwendig zu suchen, weiter zu suchen.
Luciana Castellina

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2022)
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