3. Mai 2022

Zerplatzte Gewissheiten

Von nst5

Der Krieg in der Ukraine verstört

und beschämt. Was macht er mit mir? Wie auf ihn reagieren?

Krieg gehört zum Schrecklichsten, was es gibt. Ich kann nur dankbar sein, selbst keinen erlebt zu haben. Bisher zumindest. Seit dem 24. Februar 2022 ahne ich, was ich bis dahin für unmöglich gehalten hatte: dass ich schon morgen in einem Krieg aufwachen kann. So wie die Menschen in der Ukraine, das an jenem Tag von russischem Militär angegriffen wurde.
Der Einmarsch mit seinen zunehmend abartigen Auswüchsen stellt mein Weltbild infrage. Mit Ausnahme der Balkan-Kriege der 1990er-Jahre schienen sich nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs alle Staaten in Europa an das ungeschriebene Gesetz zu halten, dass keiner einen anderen überfällt. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte ich geglaubt, dass Ost und West zusammenrücken. Dass freilich Unterschiede bleiben, wir aber zentrale Werte teilen und der Zug der Zeit eindeutig in Richtung Zusammenarbeit und friedlicher Koexistenz fährt. Diese Vorstellung haben die russischen Bomben nun nebenbei auch zerschossen. Vermeintliche Gewissheiten und das Gefühl von Sicherheit sind wie Seifenblasen zerplatzt.
Offenbar empfindet ein Großteil der Gesellschaft so. Denn militärisch wird jetzt aufgerüstet. Nachdem beispielsweise Deutschland nach Ende des Kalten Krieges Truppenstärke und schweres militärisches Gerät erheblich reduziert hatte, will es nun wieder 100 Milliarden Euro in die Rüstung stecken. Die Nato verstärkt ihre Präsenz in osteuropäischen Ländern. – Versuche, das Gefühl der Sicherheit zurückzuerobern.
Der Krieg deckt im Rückblick Schwächen und Fehleinschätzungen auf. Putin hat schon in Tschetschenien und Georgien Kriege geführt. Ohne seine Rückendeckung wäre der belarussische Herrscher Lukaschenka wohl kaum noch an der Macht. Putin unternimmt alles, um jegliches Streben nach Demokratisierung in seinem Einflussbereich zu unterbinden. Tendenzen in der Ukraine, sich stärker von Russland zu lösen, hat er bekämpft, bis hin zur Unterstützung von Separatisten im Donbass und der gewaltsamen Aneignung der Krim. Die russische Regierung hat den Syrienkrieg befeuert, aber behauptet, sie mische sich nicht ein. Von Russland gingen Manipulationen in den sozialen Medien aus mit dem Ziel, die Bevölkerung in den westlichen Ländern zu spalten. All das wissen wir, wissen die Regierungen, haben daraus aber keine konsequenten Schlüsse gezogen und zu wenig für einen Abbau der Bedrohung getan.

Krieg: manipulierte Informationen. –
Illustrationen: (c) Andry Djumantara (iStock)

Die gegenwärtige Politik versucht, den Krieg nicht auszuweiten und Putin mit Sanktionen zum Rückzug zu bewegen. Aber mir scheint, sie ist noch zu stark im Freund-Feind-Denken verhaftet, von Wirtschaftsinteressen bestimmt und zu wenig auf globale Kooperation ausgerichtet. Statt immer nur auf Putins Provokationen zu reagieren, sollte sie Vorschläge erarbeiten, wie „der Westen“ ihn unterstützen könnte, sein Land in eine bessere Zukunft zu führen. Jetzt wäre die Stunde, auf Konflikt- und Friedensforscher zu hören und über neue Vermittlungsbemühungen nachzudenken. Wir haben uns nicht ernsthaft genug mit gewaltfreien Strategien auseinandergesetzt, geschweige denn sie eingeübt. Ich vermisse Kreativität darin, die vielen in ihrer Freiheit beschnittenen und von Moskaus Informationsapparat manipulierten Russen zu erreichen mit Infos über das, was in der Ukraine passiert. Ihnen zu versichern, dass wir absolut etwas gegen diesen Krieg, aber nichts gegen ihr Volk haben und stärker denn je an einer friedlichen Zukunft mit ihnen interessiert sind.
Falsch wäre es, jegliche Kontakte abzubrechen, Patenschaften einzustellen, russische Kulturschaffende zu verbannen. Russinnen und Russen, die in unseren Städten leben, dürfen nicht diskriminiert oder gar angegriffen werden! Es ist nicht recht, sie für Putins Politik bestrafen zu wollen. All das würde unser Reden von Demokratie und Vielfalt, Achtung des Einzelnen und Rechtsstaatlichkeit unglaubwürdig machen und sie umso mehr an Putins Rhetorik und Argumente glauben lassen. Wir sollten aufpassen, dass wir die verloren gegangenen Gewissheiten nicht vorschnell durch neue ersetzen. Jetzt Schwächen und Fehler aus der Vergangenheit zu erkennen, verhindert noch lange nicht, neue zu begehen.
Nachrichten von unmenschlichen Taten verstören. Andererseits ist es ergreifend, wie viele Menschen in verschiedenen Ländern den Flüchtlingen aus der Ukraine mit großer Menschlichkeit begegnen: Sie stellen Privatquartiere zur Verfügung, engagieren sich in Erstaufnahmestellen, verteilen Lebensmittel und Hygieneartikel, kümmern sich um die Verteilung auf Unterkünfte, begleiten die Geflüchteten bei Behördengängen. Vereine sammeln Hilfsgüter und organisieren ihren Transport in die Ukraine. Die Bereitschaft zu spenden ist enorm! Die Folgen des Hasses setzen offenbar auch eine starke Hilfsbereitschaft frei. Das gibt wenigstens etwas Trost und Hoffnung.
Der Ukraine-Krieg bestimmt die Nachrichten, verdrängt andere Situationen von Gewalt und Ungerechtigkeit. Martin Lessenthin, Vorstandssprecher der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte in Frankfurt, verwies Anfang April gegenüber der Katholischen Nachrichtenagentur darauf, dass an vielen Orten der Welt unbeachtet von der Öffentlichkeit Menschenrechtsverletzungen weitergehen: „Derzeit werden zum Beispiel mehr Menschen auf Kuba eingesperrt als sonst. Seitens Chinas hat die Verfolgung von Uiguren und Tibetern jetzt noch einmal zugenommen. Die Diktatoren der Welt lernen nicht nur voneinander, wie sie effektiv unterdrücken und die Unterdrückung möglichst vor den Augen der Welt verbergen, sondern sie nutzen im negativen Sinne auch die ‚Gunst der Stunde’. Die Frage ist etwa, ob China mit Taiwan das Gleiche machen wird wie dies Russland nun mit seiner Nachbarschaft getan hat.” Düstere Aussichten! Sie sollen mich jedoch nicht lähmen. Vielmehr will ich mich von ihnen anstacheln lassen, mehr denn je in meinem Alltag, meiner Umgebung, meinen Beziehungen auf den Frieden zu achten und an ihm zu bauen.

Clemens Behr

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2022)
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München)