13. Juli 2022

An Russland glauben

Von nst5

Beatriz Lauenroth* hat 20 Jahre in Moskau gelebt. Sie zeichnet ein sehr

persönliches Bild von einem Land, das derzeit wenig geliebt wird.

Jeder Russe kennt das Zitat “Умом Россию не понять”: „Verstehen kann man Russland nicht, und auch nicht fassen mit dem Verstand. Es hat sein eigenes Gesicht. Nur glauben kann man an das Land.“ Der russische Dichter Fjodor Iwanowitsch Tjutschew schrieb das 1886. Es bringt meine Erfahrungen und meine Einstellung zu diesem Land auch 140 Jahre später noch auf den Punkt. Ja, an Russland muss man glauben! Heute vielleicht mehr als je zuvor.

In der Arena des Ostens
Als ich 1991 nach Moskau ging, betrat ich ein Land, in dem „glasnost“ (Transparenz) und „perestroika“ (Umbau) die wohl meist gebrauchten Wörter waren. Es gab aber auch aufkeimende Vorbehalte und Widerstände gegenüber dem Aufbruch in eine neue, ungewisse Zeit: „Gorbatschow hat unser Land an den Westen verkauft.“
Ich betrat ein Land, das mir sehr deutlich zeigte: Es gibt sehr viel mehr als meine westeuropäischen Einschätzungen und Erfahrungen.
Und während Westeuropa im Blick auf Liberalität und Selbstbestimmung an seiner vermeintlichen Erfolgsgeschichte bruchlos weiterschreibt, rang und ringt Osteuropa politisch wie kulturell noch um seine Identität und Anerkennung in dieser globalen Ordnung. Die Länder der ehemaligen Sowjetunion kämpfen vor allem um nationale Identität und territoriale Souveränität. Der „Westen“ propagiert eine multireligiöse und multikulturelle Gesellschaft, während der „Osten“ in vielfältigen und hochexplosiven ethnischen Konflikten steckt.
Nach einem Leben in Wohlstand und sozialer Sicherheit wohnte ich anfänglich mit meiner Fokolar-Gemeinschaft in einem Moskauer Arbeiterviertel, in einer Wohnung mit dunklem Treppenhaus und denkbar schmucklosem Mobiliar. Davon nahmen wir allerdings nicht viel wahr, sehr viel stärker war das Leben mit den Menschen, denen wir begegneten.
Irgendwie schien mir damals, als ob ich von den Zuschauerrängen des Westens in die Arena des Ostens hinabgestiegen war und so von der besserwisserischen Beobachterin – die zu allem eine Meinung und oft von nichts wirkliche Kenntnis hatte – zur Akteurin, zur „Mit-Spielerin“ wurde. Aus der Geschichte kannte ich die jahrhundertelangen Erniedrigungen, denen das Volk durch die despotischen Zaren oder die „unfehlbare“ Kommunistische Partei zu Sowjetzeiten ausgesetzt war, und wurde nun mit den Konsequenzen konfrontiert: Verschlossenheit und Abgrenzung vor allem dem Westen gegenüber. „Man darf den russischen Bären nicht reizen. Dann bleibt er friedlich und das heißt: in seiner Höhle!“ So erklärte es mir einer meiner Freunde.

Leidenschaft und Stolz
Ich entdeckte eine große Leidensfähigkeit. Der Historiker und Theologe Ivan Kologrivow nennt es in seinem Buch „Das andere Russland“ den Hang der „russischen Seele“ zu Entsagung und Loslösung „von der Welt“. Ich lernte, geduldig mit vielen Menschen stundenlang in einer Warteschlange für das tägliche Brot anzustehen und dann die Enttäuschung zu verarbeiten, wenn ich hörte: „Ausverkauft!“ – Ich lernte, mein Gehalt nicht aufzusparen, sondern sofort auszugeben, da am Tag darauf die Küchenstühle oder das Waschmittel vielleicht nicht mehr auffindbar waren. – Ich lernte, dass das Jetzt zählt. Morgen werden wir die anderen Probleme lösen. Und: Für jedes Problem gibt es verschiedene kreative Einfallswinkel, Hilfe von Freunden, beten, auch einmal bestechen und viel improvisieren. – Und ich musste lernen, beim oft gehörten, sehr entschiedenen „Ich will nicht!“ die Freiheit des anderen zu respektieren und nicht weiter zu fragen.

Illustration: (c) Tetiana Garkusha (iStock; bearbeitet von elfgenpick)

Wenn ich an Russland denke, denke ich an Leidenschaftlichkeit; an ausgeprägten Nationalstolz und die zuweilen fatale Neigung, sich rasch als Opfer oder schlicht gekränkt zu fühlen. Hinter dem oft aufbrausenden Temperament entdeckte ich aber auch eine tiefe Religiosität, fast eine Volksmystik, die sich trotz der eigenen Schwächen immer wieder zugesteht: „Wir sind das Volk Gottes.“ Auf diesem Hintergrund ist auch mein Glaube gewachsen. In den mehrstündigen Liturgien der russisch-orthodoxen Kirche habe ich Gott oft so nah gefühlt wie nie zuvor. In der Gemäldegalerie „Tretjakovskaia“ ließ ich mich immer wieder in die wechselvolle, spannungsreiche Geschichte von Gewalt und Harmonie und die so widersprüchliche Mentalität der Russen hineinkatapultieren.
Vielleicht hat mich Russland eine Form des Dialogs gelehrt, bei der es vor allem um das Zuhören geht, darum, in die „Haut des anderen“ zu schlüpfen. So sind Freundschaften entstanden, die an Intensität auch nach vierzehn Jahren, die ich nicht mehr in Russland bin, nicht nachlassen. Vielleicht dadurch habe ich Raum gefunden, einige meiner (verborgenen) Talente weiter entwickeln zu können: Empathie und Tatkraft.

Eine Ahnung
Fast 20 Jahre habe ich in Russland gelebt. Es waren meine bisher glücklichsten. Warum? Weil ich in meinen Freundschaften mit vielen Russinnen und Russen, bei Begegnungen in Sankt Petersburg, Krasnojarsk, Tscheljabinsk und Moskau (in der Erlöserkathedrale, an der Lomonossow-Universität wie in der Gemeinde des in seiner ökumenischen Offenheit reformfreudigen Geistlichen Alexander Men) in aller bruchstückhaften Vorläufigkeit etwas schauen durfte: eine Ahnung von einem sozusagen „Neuen Russland“, das auf der Grundlage des Evangeliums wieder zu den Wurzeln seiner Kultur und Geschichte, seinem ebenso stolzen wie bescheidenen Selbstverständnis findet. Das Russland, das in kleinen Gemeinschaften das Leben aus dem Wort Gottes neu entdeckt und so auf vielstimmige Weise wieder zur Sprache kommt und entsprechende Resonanz findet; dabei zugleich aber auch hörbereit und offen bleibt für andere, offen für Europa und die Welt.
Dieses Russland ist eine souveräne Gemeinschaft von Gemeinschaften, von kleinen „Hauskirchen“, die – übers ganze Land verstreut, in unterschiedlichste Milieus und Lebenswelten hinein ausgesät – sich nicht von ihren Politikern oder einer Nomenklatura vereinnahmen oder vielleicht sogar in Geiselhaft nehmen lässt.
Diesem Russland bin ich begegnet. Mit seinen Männern und Frauen, Alten und Jungen habe ich das Leben geteilt. Mit diesem Russland bin und bleibe ich verbunden. Gerade jetzt, in diesen Tagen und Wochen, da ein ganzes Land mit den Taten eines einzelnen Akteurs, der doch immer nur in seinem Namen handelt, völlig isoliert zu werden droht. Und dieses Russland weiß sich verbunden mit den Menschen der Ukraine, ihrem Streben nach Selbstbestimmung und Freiheit, ohne die es keinen Frieden geben kann.
Diese Erfahrung von Russland lässt mich nicht los. Und an dieses Russland glaube ich.

* Beatriz Lauenroth, geboren in Buenos Aires/Argentinien, ist in Deutschland aufgewachsen und lebt seit vierzehn Jahren in einem Zentrum der Fokolar-Bewegung in den Niederlanden. Davor wohnte sie fast 20 Jahre in Moskau.


(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2022)
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