4. Oktober 2022

Niemandem untertan – jedermann untertan

Von nst5

Im “Wort des Lebens” von September

sagt Paulus, dass er sich für alle zum Sklaven gemacht hat. Das griechische Wort „Doulos“ steht sowohl für Knecht als auch für Sklave – nach heutigem Verständnis zwei unterschiedliche Begriffe. Der Knecht verrichtet aufgetragene Arbeiten, bekommt einen niedrigen Lohn und Essen und Trinken. Er kann aber den Bauern verlassen und woanders Arbeit suchen. Der Sklave ist Besitz, Eigentum des Herrn, eine Sache! Für ihn gibt es keine Möglichkeit, den Herrn zu verlassen, außer der Flucht.
Zur Zeit Jesu gab es diese Unterscheidung noch nicht. Sowohl der Knecht als auch der Sklave waren „Unfreie“. Sie hatten den Befehlen ihrer Herren zu gehorchen.
Jesus selbst schildert im Evangelium des Lukas (Kapitel 17) das Leben der „Unfreien“. „Wenn einer von euch einen Knecht hat, der pflügt oder das Vieh hütet, wird er etwa zu ihm, wenn er vom Feld kommt, sagen: Komm gleich her und begib dich zu Tisch? Wird er nicht vielmehr zu ihm sagen: Mach mir etwas zu essen, gürte dich und bediene mich, bis ich gegessen und getrunken habe; danach kannst auch du essen und trinken.“
Wenn Paulus sich im „Wort des Lebens“ zum Sklaven, zum Knecht macht, dann macht er sich zum „Unfreien“. Warum? Weil er auf diese Weise Menschen für Gott gewinnen möchte! Wie das?
Meine Gedanken gehen zu Martin Luther und seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Seine beiden Thesen lauten:
1. Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan.
2. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.

Die erste These sagt: Kein Staat, kein Herrscher kann mir die Freiheit des Gewissens nehmen. Auch wenn Autoritäten etwas anderes sagen und wollen, ich bin nur Gott verantwortlich. Wir sagen heute dazu auch Zivilcourage. Aber diese individuelle Freiheit ist nur eine Seite der Medaille.
Für die andere Seite der Medaille steht die zweite These: Freiheit heißt für den Christen nicht, beliebig handeln zu können; keine Bindungen mit anderen Menschen eingehen zu müssen; gänzlich unabhängig zu sein. Freiheit kann nie echte Freiheit sein, wenn sie sich nicht auch in den Dienst der Mitmenschen stellt.
Luther hat es so ausgedrückt: „Siehe, so fließt aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott. Und aus der Liebe ein freies, fröhliches, williges Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen.“
Die Lust zu Gott ist es, die uns zu unseren Mitmenschen drängt. Die Liebe, die wir von Gott erfahren haben, ist es, die unser Herz bewegt und uns die Freiheit schenkt, sich für den Nächsten, sich für die Gemeinschaft zu engagieren.
Jörg Schlüter

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2022)
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