6. Oktober 2022

Neutralität muss sich an Werten ausrichten

Von nst5

Die Achtung der Menschenrechte,

die Demokratie und das friedliche Zusammenleben der Völker sind wichtiger als die Neutralität. Deswegen bezieht die Schweiz immer wieder Position – nicht erst seit dem Krieg gegen die Ukraine.

Kann ein Land wie die Schweiz angesichts des Krieges Russlands gegen die Ukraine überhaupt noch neutral sein? Seit dem Beginn des Krieges ist über Definition und Reichweite dieser wichtigsten außenpolitischen Doktrin und dieses maßgeblichen Bestandteils des schweizerischen Identitätsverständnisses innenpolitisch, aber auch international eine angeregte Debatte entbrannt. Eine durchaus vergleichbare Diskussion gibt es ja auch im Nachbarland Österreich.
Aber der Reihe nach: Was bedeutet Neutralität überhaupt und warum bezeichnet sich die Schweiz als neutral?
Die Schweizer Neutralität geht auf den Wiener Kongress von 1814/1815 zurück. Damals wurden nach den Koalitionskriegen die Staatsgebiete in Europa neu aufgeteilt. Als Kompromiss erklärten die Siegermächte die Schweiz als neutral, wodurch zwischen den europäischen Großmächten eine praktische „Pufferzone“ entstand. Damals lautete der Deal: Die Schweiz beteiligt sich nicht an Konflikten und stellt keine Söldner zur Verfügung; dafür werden auf ihrem Gebiet keine Kriege mehr ausgetragen. Die internationale Anerkennung beziehungsweise Verpflichtung der Schweiz auf die Neutralität bildet bis heute die maßgebende Grundlage für die schweizerische Außenpolitik.
Wenn wir die Neutralität verstehen wollen, müssen wir zwischen dem Neutralitätsrecht und der Neutralitätspolitik unterscheiden:
Das Neutralitätsrecht ist seit 1907 im Haager Neutralitätsabkommen völkerrechtlich anerkannt und kommt nur im Falle eines internationalen bewaffneten Konflikts zu Anwendung. Im Wesentlichen enthält das Neutralitätsrecht die Pflicht zur Unparteilichkeit und Nichtteilnahme sowie das Recht des neutralen Staates, durch den Konflikt unbehelligt zu bleiben. Die Nichtteilnahme bedeutet, dass das neutrale Land weder aktiv mit Soldaten noch mit Waffen direkt auf Seiten eines Kriegsführenden teilnehmen noch passiv sein Territorium einer kriegsführenden Partei zur Verfügung stellen darf. Als dritte Verpflichtung darf es keinem Militärbündnis wie etwa der NATO beitreten.

DIE NEUTRALITÄTSPOLITIK WAR NIE IN STEIN GEMEISSELT.
Die Neutralitätspolitik kommt auch in Friedenszeiten zur Anwendung und hat zum Ziel, die Glaubwürdigkeit und die Wirksamkeit der Neutralität zu sichern. Die schweizerische Neutralitätspolitik ist nicht als Staatszweck zu verstehen, sondern ist in der Bundesverfassung lediglich als Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik verankert. Damit gehört die Schweiz zusammen mit Costa Rica, Moldau, Österreich und Turkmenistan zu den wenigen Ländern weltweit, die ihre Neutralität in ihrer Verfassung verankert haben.
Die Bundesverfassung enthält weitere übergeordnete Zielsetzungen, welche höher gewichtet werden, wie die Achtung der Menschenrechte, die Förderung der Demokratie und des friedlichen Zusammenlebens der Völker. Wenn die Neutralität mit diesen Werten kollidiert, was im Ukraine-Krieg klar der Fall ist, muss die Schweiz eine Güterabwägung vornehmen.

Illustration: (c) ngupakarti (iStock; bearbeitet von elfgenpick)

Die Schweizer Neutralitätspolitik war im Laufe der Geschichte nie in Stein gemeißelt, sondern Mittel zum Zweck, im Spannungsfeld zwischen rechtlichen und politischen, aber auch moralischen Überlegungen. Entsprechend wurde sie fortlaufend dem jeweiligen außen- und sicherheitspolitischen Umfeld angepasst. Zu Beginn der 1990er-Jahre, als der UNO-Sicherheitsrat nach dem Angriff auf Kuwait Wirtschaftssanktionen gegen den Irak verhängte, übernahm die Schweiz erstmals UNO-Sanktionen. Damit erklärte sie Wirtschaftssanktionen als mit der Neutralitätspolitik vereinbar und verabschiedete sich bereits damals von einem traditionellen Verständnis der Neutralität. Im Laufe der letzten 20 Jahre entwickelte das Land eine sogenannte „aktive Neutralitätspolitik“, die sich am Völkerrecht orientiert. Die Schweiz tritt zwar unparteilich auf, wie eine neutrale Richterin. Aber sie bezieht Position, indem sie das Recht anwendet und sich auf Diplomatie, überstaatliche Zusammenarbeit und gemeinsame Regeln stützt, um die eigene Sicherheit zu gewährleisten und um die Menschenrechte zu verteidigen. Diese Neutralitätspolitik ist von einem breiten Konsens getragen: In einer jährlichen Studie des „Center for Security Studies“ der ETH Zürich befürworteten 96 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer eine Beibehaltung der Neutralität. Gleichzeitig stieg der Anteil derjenigen, welche eine „differenzielle Neutralität“ wünschen, also eine klarere Stellungnahme in politischen, aber nichtmilitärischen Konflikten, von 49 Prozent im Jahr 2019 auf 57 Prozent im Jahr 2021.
Vor diesem Hintergrund greifen die Analysen von zahlreichen Kommentatoren weltweit zu kurz und überschätzen den Entscheid, die Sanktionen gegen Russland mitzutragen. Die Schweiz hat damit nicht ihre „tiefverwurzelte Tradition der Neutralität“ (New York Times) aufgegeben. Vielmehr hat sie sich an der oben beschriebenen Richtschnur ihrer aktiven Neutralitätspolitik orientiert. Nicht die Sanktionierung ist Neutralitätsbruch – die Nichtsanktionierung wäre ein Neutralitätsbruch, denn der Krieg gegen die Ukraine ist völkerrechtlich eindeutig: Mit dem Angriffskrieg und mit der Besetzung einzelner Regionen der Ukraine hat Russland die UNO-Charta gleich mehrmals verletzt, während die Ukraine von ihrem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch macht. Oder wie es der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis treffend ausdrückte: „Einem Aggressor in die Hände zu spielen, ist nicht neutral.“

NEUTRALITÄT HEISST NICHT,KEINE PARTEI ZU ERGREIFEN.
Würde sich die Schweiz in diesem Konflikt nicht positionieren, würde ihr das zu Recht als Komplizenschaft mit dem Rechtsbrecher ausgelegt. Wenn ein Staat die fundamentalsten Regeln verletzt, mit Tausenden Kriegsopfern als Folge, und die Schweiz würde sagen: „Das geht uns nichts an“, würde sie sich politisch und moralisch enorm angreifbar machen.
In Übereinstimmung mit dem Neutralitätsrecht beteiligt sich die Schweiz konsequenterweise aber nicht an Waffenlieferungen. Dies ist denn auch die Erklärung dafür, warum die Schweiz aus dieser völkerrechtlichen Verpflichtung heraus auch anderen Ländern die Ausfuhr von schweizerischem Kriegsmaterial an die Kriegsparteien untersagen muss.
Neutralität heißt also nicht, keine Partei zu ergreifen. Neutralität heißt, sich an den eigenen Werten zu orientieren und darauf basierend Stellung zu beziehen. Nur so lassen sich die eigenen Werte hochhalten.
Diego Bigger

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2022)
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