6. Oktober 2022

Zwischen Idealen und Zwängen

Von nst5

Im vielschichtigen System Schule

wird der Traumjob „Lehrer“ zur täglichen Herausforderung.

Schule – ein Thema, fast so weit wie das Universum. Und so könnte man auch das System Schule aus unzähligen Blickwinkeln und mit vielen Fragestellungen angehen. Bildung ist ein Thema, über das leidenschaftlich diskutiert wird. Sie verspricht dem Einzelnen sozialen Aufstieg und wird häufig als Universallösung für zentrale Herausforderungen unserer Zeit beschworen. Sei es die Krise der Demokratie, die Integration von Geflüchteten, die Digitalisierung, der demografische Wandel, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich oder der Klimawandel. Stets wird ein großes Spektrum von Erwartungen und Forderungen an das Bildungssystem herantragen. Dabei gibt es fast immer unterschiedliche Sichtweisen, widerstreitende Interessen und schwer miteinander vereinbare Ideale. Nicht zuletzt, weil die Schulpolitik in der Schweiz und Deutschland zu den wenigen Bereichen gehört, die in der Verantwortung der Kantone beziehungsweise Bundesländer liegt, wird sie oft zur Projektionsfläche von politischen Graben- und Profilierungskämpfen. Integrierte Schulformen, Inklusion und Digitalisierung sind nur drei der vielen Themen, die in den letzten Jahren – insbesondere vor Wahlen – regelmäßig heftig diskutiert werden.

Illustrationen: (c) Yayasya (iStock)

In den Klassenzimmern bildet sich Gesellschaft ab: Die Schülerschaft wird vielfältiger, die pädagogische Arbeit anspruchsvoller. Lernen im Gleichschritt wird den unterschiedlichen Lernbedürfnissen der Kinder und Jugendlichen schon lange nicht mehr gerecht. Eine stärkere Individualisierung des Unterrichts wäre gefragt. Das erfordert ein Umdenken und oftmals neue Lehrmethoden. Lehrpläne und Konzepte werden ja auch in schöner Regelmäßigkeit entworfen, beraten, eingeführt und wieder revidiert. Der große Wurf scheint aber nicht in Sicht.
Zugleich stehen Schulen mehr denn je unter Beobachtung. Daten über ihre Leistungsfähigkeit gehören seit PISA zum Werkzeugkasten von Politik und Verwaltung. Leistungsuntersuchungen kosten Zeit, erzeugen Druck und verengen das Lernen mitunter auf messbare Ergebnisse. Gleichzeitig sollen Schulen mehr leisten als „nur“ Fachwissen zu vermitteln. Sie sind Orte des sozialen und politischen Lernens.
Die Pandemie hat uns vieles erschreckend deutlich vor Augen geführt; im Schulsystem vor allem dessen gravierende Schwächen. Nicht zuletzt deshalb haben Kinder und Jugendliche am stärksten unter der Pandemie gelitten. Welche Folgen das für ihre persönliche und unsere gesellschaftliche Entwicklung hat, werden wir wohl erst im Lauf der Zeit ermessen können.
Unser Fokus auf den folgenden Seiten liegt aber auf anderen Akteuren in diesem komplexen Gebilde: den Lehrerinnen und Lehrern. Sicher blitzen da Empfindungen auf. Sie hängen nicht zuletzt davon ab, ob wir selbst gerade Kinder durch die Schuljahre begleiten oder uns an die Erfahrungen aus der eigenen – mehr oder weniger lange zurückliegenden – Schulzeit erinnern. Welche Lehrerinnen und Lehrer kommen Ihnen da spontan in den Sinn? Bei mir waren es die, an denen wir uns in der Klasse gerieben haben. Es gab andere, über die wir gelächelt oder jene, unter denen wir gestöhnt haben. Bei einigen erinnere ich mich kaum noch an den Namen, und von ganz wenigen könnte ich tausend Kleinigkeiten erzählen. Sie waren lange Vorbilder.

Illustration: (c) Yayasya (iStock)

Auf den folgenden Seiten lassen wir vor allem Lehrerinnen und Lehrer selbst zu Wort kommen, möchten uns mit ihnen der Lebensrealität Schule hier und heute annähern. Dabei können wir nicht über alle Schulformen im Einzelnen sprechen, lassen den vorschulischen Bereich ganz außen vor und geben ganz sicher nicht Antworten auf all die schwerwiegenden bildungspolitischen Fragen. Aber vielleicht erahnen auch Sie dadurch ein wenig mehr, wie Lehrkräfte sich heute in den vielschichtigen Spannungsfeldern bewegen.
Lehrerinnen und Lehrer. Das Gerücht, die meisten hätten ihren Beruf wegen der langen Ferienzeiten gewählt, hält sich hartnäckig. Aber nicht zuletzt der derzeit offensichtliche Lehrermangel stellt diese These doch nachhaltig infrage. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass die meisten mit Idealen und Zielen an den Start gehen. Ihren Beruf verstehen viele wohl als Berufung. Sie wollen junge Menschen auf ihrem Weg ins Leben begleiten, sie wachsen und reifen sehen, sie bei ihren Mühen unterstützen und in Erfolgserlebnissen bestärken.
Die Landung im Berufsalltag ist dann für manche Berufsanfänger ernüchternd: Das System Schule erleben sie nicht nur komplex, sondern auch starr und veränderungsresistent. Sie treffen nicht nur auf die Schülerinnen und Schüler mit all ihren unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten. Sie kommen in Schulen, die Mängel verwalten, finden sich als Neulinge in Lehrerkollegien, die eingefahren sind, sind ausgespannt zwischen Erwartungen, die auch von besorgten Eltern an sie herangetragen werden. Sie sollen Lehrpläne abarbeiten, Ziele erreichen. Denn: Im großen System Schule erfahren nicht nur Schülerinnen und Schüler Zwänge. Auch Lehrerinnen und Lehrer können davon ein Lied singen. Da braucht es langen Atem und viel Engagement, sich dennoch Freiräume zu schaffen und zu bewahren. Das gelingt trotz allem vielen von ihnen. Was sie bei allen Mängeln und Zwängen für die Kinder und Jugendlichen möglich machen, verdient Anerkennung und Respekt. Denn wie wir Kinder und Jugendliche heute ins Leben begleiten, wird nicht nur deren persönliche, sondern auch unsere gesellschaftliche Zukunft prägen. Dass Lehrerinnen und Lehrer dabei eine gute Rolle spielen, ist wichtig. Aber es ist genauso wichtig, dass wir sie damit nicht allein lassen. Damit sie ihre Aufgaben gut erfüllen können, sollten wir auch gesellschaftlich alle notwendigen Anstrengungen unternehmen, die für eine Neuausrichtung unseres Schulsystems notwendig sind. Der Blick in andere Länder, speziell nach Skandinavien, kann da hilfreich sein.
Gabi Ballweg

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2022)
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