6. Oktober 2022

Eine ganz eigene Magie

Von nst5

Manuel Ledergerber

Foto: privat

Wann verstehen Schülerinnen und Schüler etwas? Welche Rolle hat die Lehrperson dabei? Und warum machen solche Momente so viel Freude?

Manuel Ledergerber studiert an der Zürcher Hochschule der Künste Schulmusik II. Der dreijährige Master mit mehreren integrierten Praktika befähigt zum Musiklehrer an Gymnasien. Daneben hat er Erfahrungen gesammelt als Nachhilfelehrer für diverse Fächer mit Schülerinnen und Schülern von sechs bis 17 Jahren.

Eine Gleichung steht am Whiteboard. „An was erinnert dich die linke Seite?“, frage ich die Nachhilfeschülerin. Wir schauen beide zu diesem abstrakten Mix aus Zahlen, Buchstaben und Zeichen. Plötzlich sagt sie: „Ah! Ist das eine binomische Formel?“ und die Aufgabe ist geknackt.
Warum habe ich eine solch große Freude an diesen Momenten, wenn etwa ein Schüler, nachdem er bereits mehrere Aufgaben gelöst hat, plötzlich versteht und erklären kann, warum die Aufgaben so gelöst werden? Oder wenn ein Chor plötzlich beginnt, aufeinander hörend, Melodien zu gestalten, Dynamik und Phrasierung zu entwickeln? Oder eben, wenn die binomische Formel in einer komplexen Gleichung erkannt wird?
Diese Momente passieren in den Schülerinnen und Schülern oder – etwa bei einem Chor – innerhalb einer Gruppe. Als Lehrperson habe ich keinen Zugriff darauf, ich kann diesen entscheidenden Punkt nicht erzwingen. Ich glaube, auch die Schülerinnen und Schüler können ihn nicht erzwingen. Er ist also ein Geschenk; in ihm steckt eine ganz eigene Magie, und das mitzuerleben, macht mir große Freude.
Als Lehrperson kann ich versuchen, einen Raum zu gestalten, der zu diesen Momenten beiträgt. Zurück zum Eingangsbeispiel: Nach einer von mir gestellten Frage versuche ich zu spüren, wo das Gegenüber mit seinen Gedanken ist. Wenn ich das Gefühl habe, es bewegt sich bereits viel und die Schülerin glaubt daran, dass alles vorhanden ist, um selbst die Aufgabe zu knacken, dann warte ich und übe mich im Schweigen. Wenn ich spüre, ihre Gedanken sind woanders oder drehen sich im Kreis, dann suche ich eine neue Frage oder eine neue Methode, um in den Raum zu gelangen, wo der Erkenntnisgewinn möglich wird. Dabei müssen beide sowohl sich selbst und der anderen Person vertrauen: der Schülerin, dass sie den nächsten Schritt von sich aus schafft, und der Lehrperson, dass sie immer neue Wege findet, bis der Raum stimmt.
Das klingt alles sehr schön und einfach, aber in diesen Überlegungen erkenne ich auch viele Schwierigkeiten: Manchmal sehe ich nur das Problem und keine Lösungswege. Oder ich stelle eine Frage und ich habe kein Gespür, wo die andere Person gerade ist. Das passiert meistens, wenn ich mit mir selbst beschäftigt bin. Vor einer Klasse ist es wahrscheinlich ohnehin unmöglich, alle wahrzunehmen und zu merken, ob sie dabei sind oder nicht. Weiter habe ich manchmal den Eindruck, meine Herangehensweisen führen nicht zu mehr Vertrauen oder Motivation, sondern zu Unsicherheit, Verwirrung oder gehen einfach ins Leere. Oder manchmal meine ich alles gut gemacht zu haben, aber es passiert einfach nichts! Dann nicht in eine Negativ-Spirale zu geraten, empfinde ich jedes Mal als Herausforderung.
In all dem Schönen und Schwierigen vergesse ich gerne, wie oft die Momente des Lernens in meiner Abwesenheit passieren. Das ist einerseits schade, weil es ja so schön ist, sie mitzuerleben, andererseits auch beruhigend und entlastend.
Es bleibt dabei: Diese Momente kann man nicht erzwingen. Und darin scheint mir das Schöne wie auch das Frustpotenzial verborgen.
Manuel Ledergerber

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2022)
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