5. Dezember 2022

Wärme und Würde

Von nst5

Offener Brief an Jörg Richert

Sehr geehrter Herr Richert!

Dass es in Deutschland eine Bundeskonferenz der Straßenkinder gibt, war mir bisher nicht bekannt. Offensichtlich ein wenig naiv hatte ich „Straßenkinder“ in anderen Ländern vermutet, nicht hier bei uns. Inzwischen weiß ich, dass Sie diese Konferenz 2014 mit angestoßen haben und sie seitdem an jährlich wechselnden Orten stattfindet, zuletzt Anfang September in Essen. Jugendliche, die schon einmal auf der Straße gelebt haben oder immer noch dort leben, entwickeln dort zusammen mit Vertretern von Sozialeinrichtungen und aus der Politik Ideen, um die Situation zu verbessern.
Sie, lieber Herr Richert, haben bereits mit 16 Jahren begonnen, vernachlässigten Kindern in Ost-Berlin zu helfen. Bis heute suchen Sie nach Wegen, die es Menschen im Abseits möglich machen, in einer Atmosphäre der Geborgenheit ihre Würde und Selbstachtung wiederzuerlangen. Das mündete 1989/1990 in die Gründung von „KARUNA Zukunft für Kinder und Jugendliche in Not e.V.“ KARUNA bedeutet Zuwendung, Geborgenheit und Schutz. Der Name ist Ihnen und allen, die mitarbeiten, eine Verpflichtung. Mit Ihrer Arbeit wollen Sie Kindern und Jugendlichen helfen, damit sie zu selbstbestimmten, freien Menschen heranwachsen.
Schätzungen zufolge sind in Deutschland bis zu 37 000 junge Menschen obdachlos, darunter etwa 7000 Minderjährige. Anders als der Begriff „obdachlos“ nahelegt, schlafen die meisten nicht auf der Straße, sondern pendeln zwischen Notschlafstellen, Jugendhilfeeinrichtungen und Couches von Freunden. Sie werden immer öfter „disconnected youth“ genannt: junge Menschen in verdeckter Obdachlosigkeit, die von staatlichen Hilfssystemen entkoppelt sind und deshalb auch in keiner Statistik auftauchen.
Unter dem Dach von KARUNA ist so 2014 „Momo – The Voice of Disconnected Youth“ entstanden, von Jugendlichen für Jugendliche – mit Anlaufstellen in einigen deutschen Städten, etwa in Essen, Hamburg und Berlin. Dort arbeiten Sozialarbeiter und Jugendliche, die obdachlos waren, („Momos“) zusammen mit Jugendlichen, die es noch sind. Gemeinsam wollen sie jungen Menschen eine Perspektive geben – etwa durch die Straßenkinderkonferenzen.
Die „Momos“ haben auch eine App entwickelt: mokli-app.de, eine Hilfeplattform, über die Menschen in Not schnell Adressen von Ärzten, Verpflegungsstellen, Schlafplätzen, Beratung und anderem finden können.
Diese App bildet die Grundlage für das Mitte Oktober gestartete „Netzwerk der Wärme“: Damit alle in Berlin die bevorstehende kalte Jahreszeit trotz aller Krisen gut überstehen, rufen Sie gemeinsam mit anderen Akteuren dazu auf, „dass unsere Bibliotheken, die Nachbarschafts-, Jugend- und Familienzentren, Theater, Kirchen und Moscheen, Kantinen, Clubs u.v.m. ihre Türen weit öffnen.“ Weiter heißt es da: „Begegnen wir uns, helfen wir einander, verbringen wir die kalte Jahreszeit, mehr denn je, in der Gemeinschaft unserer Nachbarschaft!“
Hut ab! Eine tolle Arbeit, die das Karuna-Netzwerk leistet. Eindrucksvoll letztlich vor allem deshalb, weil dahinter nicht Sie allein stehen, sondern eine Solidargemeinschaft, die zeigt, was möglich ist, wenn Menschen sich zusammentun und einander fördern.

Alles Gute, Ihnen und allen, die daran mitarbeiten!

Mit freundlichen Grüßen

Gabi Ballweg,
Redaktion NEUE STADT

Foto: privat

Jörg Richert,
1963 im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg geboren, hat bereits mit 16 Jahren begonnen, vernachlässigten Kindern in Ost-Berlin zu helfen. Bis heute sucht er nach Wegen, die es Jugendlichen am Rand der Gesellschaft möglich machen, in einer Atmosphäre der Geborgenheit ihre Würde und Selbstachtung wieder zu erlangen. Er entwickelte unter dem Dach einer Sozialgenossenschaft eine Vielzahl von Hilfsangeboten, darunter auch die Straßenkinderkonferenz.
cms.karuna-ev.de
karuna.family


Hat Ihnen der Artikel gefallen? Möchten Sie mehr von uns lesen? Dann können Sie hier
das Magazin NEUE STADT abonnieren oder ein kostenloses Probe-Heft anfordern.
Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2022.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.