4. April 2023

Das Leid lange nicht erahnt

Von nst5

Gabi Ballweg

Foto: privat

hat als Jugendliche die Spiritualität der Fokolar-Bewegung kennengelernt und lebt seit 1996 in einer Fokolargemeinschaft. Seit mehreren Jahren ist sie für die Fokolar-Bewegung im Zentralkomitee der deutschen Katholiken. In den vergangenen drei Jahren ist sie auch mit unterwegs auf dem Synodalen Weg der Kirche in Deutschland.


Mir geht es wie anderen meiner Generation, die in christlichen Kontexten aufgewachsen sind: Beim Thema Sexualität bin ich geprägt von der offiziellen Lehre meiner – katholischen – Kirche. Die kann man wohl zu Recht als normativ bezeichnen. Und an der restriktiven Sprache habe ich mich oft gerieben. Trotzdem habe ich dahinter (meistens) auch Werte sehen können – und den Wunsch, dass ein Leben nach dem Evangelium und die Entscheidung für Gott sich in allen Lebensbereichen widerspiegelt, auch in Sexualität und Beziehungsleben.
Die Fragen wurden brennend, wenn Menschen sich mit diesen Normen schwerer taten. Etwa Jugendliche, die in Beziehungen nach ihrem Weg mit Gott suchten, oder Menschen, deren Ehen auseinandergegangen waren und die in neuen Beziehungen lebten. Sie wollten ihre Beziehung mit Gott in der Gemeinschaft der Kirche oder auch der Fokolar-Bewegung leben, fühlten sich aber unverstanden und ausgegrenzt.
Homosexualität war lange gar kein Thema. Und wenn, dann eher theoretisch oder so abstrahiert, dass ich – vielleicht ein wenig naiv – keine persönliche „Betroffenheit“ vermutete. Vielleicht wollte ich es auch nicht wahrhaben? Das lag vielleicht daran, dass mir – aufgrund meiner eigenen sexuellen Orientierung – die Vorstellung fremd war. Ich hielt das für „normal“ – und habe das Leid der anderen lange nicht einmal erahnt.
Mein Bild von queeren Menschen war außerdem geprägt von „schrillen“ Fotos, Filmen, Nachrichten. Als sich gute Bekannte mir gegenüber outeten, kam einiges ins Wanken. Ich bin ihnen sehr dankbar für ihre Offenheit; dafür, dass sie Fragen, Zweifel, Unsicherheit, Wut, … ihr Ringen mit Gott mit mir geteilt und dabei auch meine Fragen und Überzeugungen ausgehalten haben. Wie verletzend ich dabei manchmal war (und vielleicht auch noch bin), habe ich nur nach und nach wahrgenommen. Das tut mir sehr, sehr leid!
Kurzum: Das Thema „Queer“ hat mit diesen Menschen für mich ein Gesicht bekommen – und war nicht mehr einfach so abzutun. Menschen kann ich nicht beiseite wischen wie ein Thema. Sie haben mich, meine Sicht, meinen Glauben und meine Überzeugungen herausgefordert. Das war manchmal ganz schön unbequem.
Das Wichtigste, was ich dabei gelernt habe? Es ist keine Nebensächlichkeit, ob ein Mensch sich auch in seiner sexuellen Identität gesehen und angenommen weiß. Und das trifft einen zentralen Punkt: Gott liebt jeden Menschen! So wie er/sie ist. – Und ich wünsche mir doch, dass Menschen eine persönliche Beziehung zu ihm finden und ihr Leben an ihm ausrichten. Darf und kann ich dann nicht auch glauben, dass sie aus der Beziehung mit ihm ihr Leben gestalten? So, wie ich meines.
Das hat mir einen neuen Blick gegeben und die Offenheit, mich auch anderen Fragen zu stellen. Wie ist das mit der Bibel? Welche Aussagen genau macht die Kirche und warum? Wo gibt es Entwicklungen? Wie positioniere ich mich dazu? – Nicht zuletzt auf dem Synodalen Weg spielen diese Fragen eine zentrale Rolle. Es gibt Erkenntnisse aus Human- und Bibelwissenschaft, die mir sehr einleuchten, andere werfen neue Fragen auf.
Ganz sicher bin ich auf diesem Weg nicht am Ende angekommen. Die Fragen an mich heranzulassen, nicht auszuweichen, auszuhalten, dass ich auf die eine oder andere noch keine Antworten habe, ist anstrengend.
Mir hilft dabei, mich immer wieder vor Gott zu stellen und mit anderen darüber ins Gespräch zu kommen.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, März/April 2023.
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