Erstarrtes verflüssigen
Das Evangelium ereignet sich nicht nur in einer Nische
des Menschseins, sondern durchdringt alles, auch das sexuelle Leben, meint der Aachener Bischof Helmut Dieser. Neue Erfahrungen brauchen da aber neue Antworten.
Herr Bischof, die Kirche sucht einen „zeitgemäßen Blick“ auf Sexualität. Was bedeutet zeitgemäß?
Zeitgemäß bedeutet nicht modern oder gar, dass wir den Menschen nach dem Mund reden wollen. Zeitgemäß meint: Neue Situationen und Entwicklungen, die der Mensch vorfindet. Neue Erfahrungen lösen neue Fragen aus. Diese brauchen Antworten. Immer dann, wenn Menschen sich mit ihren Fragen, ihrem Leben nicht wahrgenommen fühlen, besteht die Gefahr, dass sie sich abwenden. Dann können sie auch die Wahrheit Gottes nicht für sich annehmen. Als Kirche gehen wir durch die Zeit. Gott geht diesen Weg mit. Das Ziel ist die Ewigkeit Gottes und die Fülle des Lebens bei ihm. Darauf ist auch die Suche nach Antworten immer ausgerichtet. Dabei geht es um alle Dimensionen des Menschenseins.
Hat sich denn so viel verändert?
Das tut es beständig. Unter einer Ehe beispielsweise verstehen wir heute etwas völlig anderes als in der Antike oder im Mittelalter. Damals hatte die Ehe vor allem den Zweck, das Überleben zu sichern. Erst seit dem 19. Jahrhundert ist die Liebesheirat möglich, weil man es sich auch wirtschaftlich leisten kann. Wenn man diese Entwicklungen bedenkt, ist klar, dass sich auch die Deutung von Ehe und wie man sie leben soll in der kirchlichen Lehre immer weiterentwickelt hat.
Was bedeutet das im Blick auf Homosexualität?
Das ist eine der brennendsten Fragen. Auch der Papst setzt da neue Akzente. In einem Interview sagte er kürzlich, dass Gesetze, durch die homosexuelle Menschen zu Kriminellen gemacht werden, falsch sind und abgeschafft werden müssen. Damit meint er, dass vor allem die Bischöfe in den Ländern, in denen es solche Gesetze gibt, dabei mitwirken müssen. Gesetze können vor Gott nicht richtig sein, wenn damit Menschen allein wegen ihrer sexuellen Orientierung zu Kriminellen gemacht werden. Gleichzeitig sagt er auch, dass im Katechismus steht, dass sexuelle Handlungen zwischen gleichgeschlechtlichen Personen Sünde sind.
Damit ringen Sie im Synodalen Weg?
Ja, weil wir fragen: Ist das so richtig? Müssen wir etwas für Sünde halten, nur weil sich zwei Personen desselben Geschlechts lieben? Wenn beide sagen: Was wir tun, ist für uns Ausdruck dessen, dass wir einander anziehend finden, dass wir beieinander sein und ein gemeinsames Leben führen wollen. Dann ist das genau das, was die Liebe will. Sie sagen sogar noch mehr: Dass sie Gott dankbar dafür sind, was sie miteinander teilen. Dafür, dass sie zusammengefunden haben und füreinander Verantwortung übernehmen wollen. Auch dann, wenn der andere Hilfe braucht. Das sind Werte des Evangeliums, die sie in ihrer Beziehung leben.
Deshalb fragen wir, ob wir auf eine solche Erfahrung hin wirklich nur sagen können: ‚Es ist aber Sünde, weil es einem bestimmten Bild von Sexualität nicht entspricht?‘ Wir bitten darum, dass die Kirche prüft, was vor Gott und dem Evangelium Bestand hat. Es geht nicht darum, Schleusentore zu öffnen, sondern es geht um Unterscheidung.
Ihre Bitte löst heftige Diskussionen aus.
Ja, und ich erlebe sie von beiden Seiten. Die einen meinen, dass wir das Erbe der Kirche verraten, wenn wir in dieser Richtung weitergehen. So einfach machen wir es uns nicht. Wir suchen immer wieder den Anschluss an die Glaubenstradition und die geistliche Tradition. Es geht nicht um einen Bruch. Weiterentwicklung wäre das richtige Wort.
Die einen sagen: Ihr brecht. Und die anderen?
Sie sagen: ‚Ihr seid feige und geht nicht weit genug, wischt doch endlich all diese inhumanen Sachen vom Tisch.‘ Auch das ist falsch. Sexualität ist nicht beliebig. Wir sind herausgefordert, das Evangelium zu verkünden, und das ereignet sich nicht nur in einer Nische des Menschseins, sondern durchdringt alles, auch das sexuelle Leben. Deswegen muss es immer eine christliche Deutung der Sexualität geben, die uns hilft, auch als sexuelle Menschen in der Nachfolge Jesu zu leben. Auf ihn und das zukünftige Leben hin – in einer Weise, die Bestand haben wird, weil sie Gott gemäß war. Und wir wissen: Alles, was in der Liebe geschieht, wird sich im Reich Gottes wiederfinden.
Manche fragen, ob man dabei das Wort Gottes ernst genug nimmt?
Da sind wir in einem heiklen Bereich. Was bedeutet ernstnehmen? Die Bibel braucht Auslegung. Immer. Sie ist ein Buch, das Menschen, die geschichtliche Wesen waren, mit Gottes Hilfe aufgeschrieben haben. Sie ist nicht vom Himmel gefallen. Die Autoren der Bibel waren alle Personen ihrer Zeit. Sie konnten gar nicht anders als aus den Plausibilitäten ihrer Zeit heraus zu schreiben. Das betrifft auch Themen wie die Sexualität. Etwa in der Erzählung über Sodom (Gen 19) im Alten Testament. Da wollen Männer sexuellen Verkehr haben. Das wird als abscheulich gebrandmarkt. Wenn man genau liest, sieht man: verurteilt wird nicht die gleichgeschlechtliche Sexualität, sondern der Bruch des Gastrechts. Stattdessen bietet der Vater seine Töchter als Ersatz. Das ist ja nun wirklich nicht die Lösung, die wir uns heute vorstellen würden. Aber für die damalige Welt war diese Lösung besser als die andere.
Wie wird sonst in der Bibel von Homosexualität gesprochen?
Diejenigen, die sich intensiv damit befasst haben, erklären uns, dass sich in der Bibel nicht das Verständnis von Homosexualität findet, wie wir es in unserer Zeit haben. Homosexualität sehen wir heute nicht als momentane Schwäche oder Verirrung. Es geht um eine Orientierung, die im Menschen auf Dauer angelegt ist. Das hat man damals so überhaupt nicht gesehen. Und es wäre so auch nicht lebbar gewesen. Homosexualität findet sich dann erst in einer Hochkultur wie bei den Römern oder Griechen. Aber dort waren es dann die Reichen, die sich Lustknaben hielten. Auch um diese Form von Homosexualität geht es uns nicht.
Sondern?
Heute geht es um Partnerschaft, darum, dass zwei freie Personen einander auf Augenhöhe begegnen und nicht der eine Macht über den anderen hat. Wenn jemand aus der Wahrnehmung seiner selbst heraus sagt: „Ich kann nicht übersehen, dass ich auf das gleiche Geschlecht hin orientiert bin. Ich verliebe mich nun einmal nicht in eine Frau, sondern in einen Mann. Was mache ich denn, wenn ich dieser Sehnsucht nachgehen und nicht allein leben möchte? Darf ich das in der Nachfolge Christi oder nicht?“
Das ist die Frage, um die es geht. Und wir versuchen zu sagen: ‚Nein, du verleugnest nicht die Heilige Schrift, du verleugnest nicht die Werte, die Jesus als die höchsten bezeichnet hat: Den Herrn, deinen Gott, lieben mit allem, was in dir ist, und den Nächsten wie dich selbst. Darin ist das ganze Gesetz zusammengefasst, auch das ganze Alte Testament.‘
An diesem Punkt stehen wir. Wir machen tastende Versuche, wie man vielleicht in einer anderen Weise darüber denken darf. Der entscheidende Punkt ist, dass da Menschen von sich sagen: ‚Wir wollen doch Gott danken können.‘ Und es gibt bei Paulus dieses wunderbare Wort: Alles, wofür ein Mensch ehrlichen Herzens dankt, das kann nicht Sünde sein! (vgl. Röm 14,6.22; 1 Tim 4,4f.) Auch wenn Paulus das in einem anderen Zusammenhang sagt – im Blick auf die jüdischen Speisegebote – kann man es vielleicht doch übertragen.
Ein Thema ist auch geschlechtliche Vielfalt. Was sagen Sie dazu?
Manche Menschen erleben sich nicht eindeutig als Mann oder Frau, wie es in der Schöpfungsgeschichte erzählt wird. Auch das sind Situationen und Fragen von Menschen, die wir nicht einfach ignorieren können. Mir scheint plausibel, dass es geschlechtliche Binarität nicht zu hundert Prozent gibt. Auch die Schöpfungsgeschichte müssen wir auslegen. Im hebräischen Urtext heißt es: „Als männlich und weiblich schuf er sie“ (Gen 1,27). Damit eröffnet sich eine Spannbreite, die sich zwischen zwei Polen ausbreitet. Gott schuf ja auch Tag und Nacht. Aber es gibt auch die Abenddämmerung und das Morgengrauen.
Manchmal wird dem Synodalen Weg Ideologie vorgeworfen.
Ideologie entsteht immer dann, wenn Menschen ein bestimmtes geschichtliches Bild einfrieren wollen. Diese Gefahr schlummert immer in uns, weil ein geschichtlicher Weg anstrengend ist.
Ideologie kann es auf beiden Seiten geben, rechts wie links, konservativ wie progressiv. Ideologie birgt immer die Gefahr, sich über die Realität hinweg zu täuschen. Wenn man uns vorwirft, eine Ideologie zu bedienen, gehen bei mir die Alarmglocken an, denn das tun wir ja gerade nicht. Wir versuchen, das Erstarrte flüssig werden zu lassen. Immer dann, wenn Fragen nicht mehr gestellt werden dürfen, fängt es an, verdächtig zu werden. Es ist wichtig, sie zuzulassen und nicht zu bekämpfen oder wegzudrücken. Dann kann Unterscheidung beginnen.
Wo sehen Sie die größten Stolpersteine auf dem Weg?
Das größte Problem ist die Ungleichzeitigkeit. Wir sind eine Weltkirche. Die Einheit der Kirche, dass Menschen unterschiedlicher sozialer Stellungen und Kulturen sich als einen lebendigen gemeinsamen Organismus begreifen, ist etwas unsagbar Schönes und Kostbares. Dafür braucht es das Papstamt. Der Papst als Person und Hirte steht dafür ein und hält alles zusammen.
Dass Fragen ganz unterschiedlich brennend geworden sind bei uns oder in anderen Teilen der Welt, macht es nicht leicht. Aber ich hoffe trotzdem. Denn der Papst hat ja auch von Dezentralisierung und Synodalität gesprochen. Das kann auch heißen, dass Fragen auf der Welt unterschiedlich bearbeitet oder beantwortet werden können, ohne dass man einander abspricht, katholisch zu sein. Ohne dass die Einheit zerbricht.
Mich stimmt hoffnungsvoll, dass die Themen, die wir ansprechen, auch im Dokument des weltweiten synodalen Weges auftauchen. Wir behandeln sie auf unsere Art und gehen vielleicht im Aussprechen einen Schritt weiter als andere. Aber die Themen sind erkennbar weltweit da.
Sehr herzlichen Dank!
Gabi Ballweg
Helmut Dieser ist seit 2016 Bischof von Aachen. Geboren 1962 in Neuwied, aufgewachsen in Heimbach-Weis, studierte er Katholische Theologie und Philosophie in Trier. 1989 erhielt er dort die Priester- und 2011 die Bischofsweihe. Seit Mai 2020 ist er mit Birgit Mock Vorsitzender des Synodalforums 4 des Synodalen Weges der Kirche in Deutschland: „Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft“. Sein Blick auf Homosexualität habe sich durch Gespräche dort, durch Begegnungen mit jungen Menschen und die Auseinandersetzung mit Erkenntnissen der Humanwissenschaften stark verändert. Seit September 2022 ist er Vorsitzender der „Bischöflichen Fachgruppe für Fragen des sexuellen Missbrauchs und von Gewalterfahrungen“ der Deutschen Bischofskonferenz.
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