4. April 2023

Meine tägliche Herausforderung

Von nst5

Claudete Costa de Lima

Als queere Person stoße ich auf Vorbehalte, werde verletzt, auch ausgegrenzt. Aber ich weiß, dass Gott mich liebt, wie ich bin.

Foto: privat

Claudete Costa de Lima,
54, stammt aus dem Nordosten Brasiliens und lebt seit 16 Jahren in der Schweiz. Als sie merkte, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlt, wollte sie es zuerst nicht wahrhaben. Sie erzählt, warum das so war, wie sie damit umzugehen gelernt hat, spricht von Erfahrungen der Ausgrenzung und ihrem Wunsch, als Mensch und Christin geachtet zu werden. Claudete Costa de Lima arbeitet in der Altenpflege als Abteilungsleiterin.


Als unverheiratete, Gott geweihte Frau lebte ich in einer Fokolar-Gemeinschaft, als mir bewusst wurde, dass ich mich zu einer Frau hingezogen fühlte: ein Schock! Über Monate kämpfte ich damit: eine Begegnung mit Jesus, der hilflos am Kreuz hängt. Wie konnte das sein? Vor Jahren hatte ich von Gott den Ruf gespürt, Jesus als mein Ein und Alles zu wählen. Froh und begeistert hatte ich über Jahre intensiv die Spiritualität der Einheit gelebt; hatte, um Gott zu folgen, Familie, Land, Job, Freundinnen und Freunde verlassen.
Damals war meine Vorstellung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen einseitig. Ich hielt sie für sündhaft. Das hat mich aufgewühlt und verunsichert. Es kam mir vor, als würde ich ein Werk Gottes „verderben“. Daher entschloss ich mich in jener Situation, die Gemeinschaft zu verlassen.
In den folgenden einundzwanzig Jahren habe ich einen inneren Prozess durchlebt. Dabei fühlte ich mich oft einsam. Aber Gott habe ich nah und liebevoll erfahren. In seinen Armen habe ich mich als Christin (wieder) gefunden; meine Liebe in ihm verwurzelt; gelernt, mein Queersein anzunehmen, zu respektieren und mich damit zu identifizieren. 
Gott liebt mich als sein Kind. Diese Gewissheit gibt mir die Freiheit, so zu leben und zu lieben, wie er mich geschaffen hat und es meinen Fähigkeiten entspricht.
Queere Menschen treffen auf starke Vorurteile: Sie seien untreu, wechselten ihre Sexualpartner, seien Alkohol und Drogen zugeneigt, lebten in Sünde: ein schräges Bild, das ich mir durch Prägungen aus Erziehung, kirchlicher Moral oder Kultur erkläre.
Als queerer Mensch zu leben ist eine tägliche Herausforderung: In Gesellschaft, Arbeitswelt, Kirche und Fokolar-Bewegung muss ich zuerst abtasten, ob ich mich öffnen und von mir und der Beziehung zu meiner Lebensgefährtin erzählen kann. Ich bin oft verletzt worden, ohne dass es meinem Gegenüber bewusst war, und muss immer aufpassen, um nicht erneut verletzt zu werden. So verheimliche ich bei Begegnungen zunächst mein Queersein. Wenn ich merke, dass mein Gegenüber mich akzeptieren kann, wie ich bin, kann ich mich öffnen.
Wie sehe ich Menschen, die sich noch nicht für queere Menschen geöffnet haben? Mit Barmherzigkeit, Liebe, Respekt. Ich kann sie verstehen: Akzeptanz ist ein Prozess, der manchmal Zeit braucht.
Ich wünsche mir, dass queere Personen als „normale“ Menschen, „normale“ Christen betrachtet werden. Uns alle hat Jesus eingeladen, zu Gottes Familie zu gehören, ausnahmslos. Als Kind der Spiritualität der Einheit möchte ich als Mitglied der Fokolar-Bewegung angenommen werden, nicht nur sporadisch eingeladen werden und kommen „dürfen“. Nicht ganz dazugehören zu können, tut sehr weh. Meine Beziehung zu Jesus, der sich am Kreuz von Gott verlassen fühlte, gibt mir Kraft, jeden Tag diese und andere Herausforderungen zu bewältigen. Von Gott, der Liebe ist, verstehe ich: Liebe ist keine Sünde. Jeder Mensch hat das Recht, glücklich zu werden, frei zu sein, ein erfülltes Leben zu leben.


Hat Ihnen der Artikel gefallen? Möchten Sie mehr von uns lesen? Dann können Sie hier das Magazin NEUE STADT abonnieren oder ein kostenloses Probe-Heft anfordern.
Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, März/April 2023.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München.
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.