5. April 2023

Wann hört der Albtraum endlich auf?

Von nst5

Nach den Wahlen und dem Regierungswechsel

zu Beginn des Jahres kommt Brasilien nicht zur Ruhe. Das beschäftigt auch Cecilia Mosca Spatz.

Am 8. Januar haben in Brasilia Anhänger des im Oktober 2022 nicht wiedergewählten rechtsextremistischen Jair Bolsonaro das Parlamentsgebäude, den Kongress und das Oberste Gericht gestürmt. Das hat mich und viele Brasilianer, die für die Demokratie sind, geschockt.
Doch wenn wir ehrlich sind, müssen wir eingestehen: Das war eine Katastrophe mit Ansage. Nach der Stichwahl am 30. Oktober, die Lula da Silva gewonnen hat, war im Land die Euphorie groß: „Keine weiteren vier Jahre unter Bolsonaro.“ Davon haben sich viele blenden lassen. Aber Bolsonaro hatte immer wieder gesagt, dass er dieses Wahlergebnis nicht anerkennen werde. Auch wenn er sich selbst nicht an den Protesten beteiligt hat, war er im Hintergrund aktiv. Denn obwohl er sich nach Florida, USA, abgesetzt hat, hat er mächtige Unterstützer in Brasilien, vor allem große Unternehmen, die das alles wohl finanziert haben. Da haben Menschen wochenlang vor Kasernen campiert, weil sie einen Putsch erwartet haben; die mussten essen. Wer hat das Essen gekauft und hingebracht? Oder: Am 8. Januar sind Busse aus verschiedenen Teilen des Landes nach Brasilia gefahren – voller Menschen, die das Wahlergebnis nicht akzeptieren wollten. Wer hat das bezahlt? Wer steckt dahinter? Das musste geplant werden. So etwas machst du nicht von einem Tag auf den anderen.
Seit Januar gibt es nun fast jeden Tag neue Nachrichten, bei denen ich mich frage: „Mein Gott, was ist mit Brasilien los?“

MIT ANSAGE
Das alles hat aus meiner Sicht eine Vorgeschichte. Sehr lange zeichneten wir ein einseitiges und oberflächliches Bild: Brasilianer sind fröhlich, freundlich, immer hilfsbereit. Aber darunter gärte viel Unzufriedenheit über soziale und politische Verhältnisse. Das Bild bekam deshalb auch vor Bolsonaro schon Risse. Aber durch ihn sind nun viele andere Gesichter Brasiliens und großer Teile der Bevölkerung ans Licht gekommen.
Bolsonaro hatte seinen Wahlkampf 2018 auf der Unzufriedenheit vieler aufgebaut – und gegen die Arbeiterpartei (PT) von Lula gewonnen. In den letzten vier Jahren hätte diese nun zusammen mit anderen Parteien die Möglichkeit gehabt, ein Amtsenthebungsverfahren auf den Weg zu bringen. Lula hat das nicht gemacht. Er hat lieber abgewartet, dass Bolsonaro so viele Fehler macht und die Menschen so unzufrieden sind, dass die PT wieder eine Mehrheit bekommt. Der Wahlkampf war deshalb bewusst auf Polarisation ausgerichtet. Viele Kandidaten anderer Parteien haben ihre Kandidatur zurückgenommen, weil der Druck besonders von der Arbeiterpartei auf sie so groß war. Die PT hat immer wieder einen Kampf gegen Bolsonaro ausgerufen und gefordert, sich gegen ihn zu verbünden – hinter Lula. Wer das Spiel nicht mitmachte, gegen den wurden Fake News gestreut und regelrechte Kampagnen gefahren. Die Kandidaten wurden schlecht gemacht.
Das hat die Polarisierung so weit geschürt, dass wir demnächst Zustände wie in den USA haben werden: Entweder wählst du die Republikaner oder die Demokraten. Aber das schadet der Demokratie!
Die Spaltung ist stark und geht durch alle Schichten und bis in die Familien. Auch in meine. Wir sind sieben Geschwister. Ich weiß, dass einige Bolsonaro gewählt haben, aber richtig sprechen können wir darüber nicht.

Illustration: (c) FrankRamspott (iStock; bearbeitet von elfgenpick)

Nun hat Lula die Wahl zwar gewonnen, aber mit nur zwei Millionen Stimmen Vorsprung. In einem Land mit 214 Millionen Einwohnern ist das sehr knapp.
Seit dem Januar ist viel passiert. Der Oberste Richter, Alexandre de Moraes, ist beauftragt, die Hintergründe des Aufstands aufzuklären, und es sind bis Ende Januar schon 1500 Personen festgenommen worden. Aber das ist auch ein wenig zwiespältig. Es ist gut, weil es die Verfassung schützt. Aber es baut sich da auch ein Machtmonopol auf. Viele bezeichnen ihn als „Alexander den Großen“, weil er immer mehr Befugnisse bekommt, und manche beginnen zu fragen, wer letztlich regiert und im Zweifel die Befehlsgewalt hat. Denn gerade im Militär ist die Lage so uneindeutig. Dort gab und gibt es „Bolsonaristas“, Anhänger des Ex-Präsidenten. Auch bei der Polizei. Im Januar kam es noch nicht zu einem Putsch, weil sie offensichtlich keine Mehrheit hatten. Aber man weiß nicht, wie sich alles entwickeln wird … und wer sich dann auf welche Seite schlägt.
Manchmal fragt man sich, wann dieser Albtraum endlich aufhört. Aber die Lage in den Griff zu bekommen, ist schwer; es ist ein großes Land. Ein Putsch ist nach wie vor möglich. Die Gefahr ist nicht vorbei.

JUNGE DEMOKRATIE
Ich denke, dass wir Brasilianer uns politisch besser bilden müssten, auch damit solche rechtsextremen Gedanken weniger Chancen haben. Und wir müssten unsere Geschichte besser kennen. Im Moment sind wir Gefangene der nicht aufgearbeiteten Geschichte. Wir neigen dazu, sie zu wiederholen.
Nach dem Putsch von 1964 hatten wir 21 Jahre lang eine Diktatur. Nun haben wir eine junge Demokratie. Sie wurde von Generälen gegründet und der erste Präsident war ein Militär. Warum wollen wir jedes Mal auf die Armee zurückgreifen, wenn etwas nicht stimmt? Warum können wir unsere Schwierigkeiten nicht regeln, ohne dass gleich nach einem Militärputsch verlangt wird? Wenn die Demokratie diese unruhige Zeit überlebt, hoffe ich auch, dass wir Brasilianer daraus lernen: dass sie nicht selbstverständlich ist, dass man dafür kämpfen muss.
In meiner Jugend bin ich auf die Straße gegangen für direkte Wahlen zum Präsidenten. Das war zwar schon gegen Ende der Diktatur und nicht mehr ganz so gefährlich, aber es war auch nicht ohne, nach Demokratie, Freiheit und Wahlrecht zu verlangen. Und ganz ehrlich: Ich sehe nicht ein, dass ich umsonst auf die Straße gegangen bin. Deshalb ärgert es mich, dass jetzt Leute kommen – in meinem Alter oder älter, die wieder eine Diktatur wollen. Oder jüngere, die eine Diktatur wollen und gar nicht wissen, wovon sie reden.
Wenn du gut ausgebildete Leute in der eigenen Familie hast, die an so einen Blödsinn glauben … Das ist mir schwer verständlich und mir scheint – wie man in Brasilien mit einem Sprichwort sagt – „nicht einmal Freud kann das erklären“.
Bolsonaro hat es geschafft, dass die brasilianische Gesellschaft so gespalten ist. Deswegen glaube ich nicht, dass das Jahr 2023 ruhiger wird. Mir scheint, die „Bolsonaristas“ legen es darauf an, eine Art Bürgerkrieg anzuzetteln. Damit sie noch lauter sagen können: „Wir brauchen die Armee, die Diktatur.“ Deshalb hoffe ich, dass jetzt alle anderen Kräfte vernünftig bleiben und sich nicht provozieren lassen. Es gibt aber auch den positiven Aspekt, dass viele Institutionen nun enger mit der neuen Regierung zusammenarbeiten, weil sie diese Gefahr erkannt haben. Wir müssen zusammenhalten.

Cecilia Mosca Spatz, geboren 1965 in Natal im Nordosten Brasiliens, kam nach ihrer Heirat mit einem Deutschen 1993 nach Bayern. Die Geschichtslehrerin absolvierte hier ein Studium der Sozialarbeit und arbeitet heute beim Sozialdienst Katholischer Frauen in Aschaffenburg.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, März/April 2023.
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