2. Juni 2023

Ein harter Brocken

Von nst5

Weniger Wohlstand

muss nicht zugleich auch weniger Wohlbefinden bedeuten. Wirtschaftswissenschaftler Ingo Balderjahn setzt für den notwendigen Wandel auf die Einsicht der Menschen, fürchtet aber, dass es ohne staatliche Eingriffe nicht geht.


Über Jahrzehnte hinweg hat die Aussicht auf wachsenden Wohlstand unsere Gesellschaft zusammengehalten. Wie ist das heute?
Tatsächlich hat in meiner und in den nachfolgenden Generationen der Konsum von Kindesbeinen an eine große Rolle gespielt. Konsum wurde immer als was Gutes und Erstrebenswertes hingestellt. Das hat die meisten Menschen in den reichen Ländern geprägt. Wir tragen diesen Konsumdrang in uns. Studien zeigen, dass sich viele Menschen Glück, Zufriedenheit und soziale Anerkennung davon versprechen. Manche versuchen sogar, ihre Identität im Konsum zu finden, etwa dadurch, dass sie bestimmte Marken tragen oder bestimmte Musik hören.

Ist da etwas dran?
Man kann tatsächlich durch Konsum ein Stück weit glücklich werden, aber es hält oft nicht lange an. Das verblasst nach kurzer Zeit. Das gilt auch für ein Produkt, das besonders häufig neu gekauft wird, das Smartphone. Bei Menschen, die sich zum wiederholten Mal ein Smartphone kaufen, ebbt die Begeisterung von Kauf zu Kauf ab. Wer genügsam konsumiert, also im Konsum deutlich unter seinen finanziellen Möglichkeiten bleibt, ist auch glücklich, oft sogar glücklicher als die Konsumfreudigen. 

Die meisten Menschen ahnen zumindest, dass Wohlstand allein nicht glücklich macht und nicht nachhaltig ist. Erkennen Sie Veränderungen?
In Befragungen sagen viele Leute, dass ihnen der Schutz der Umwelt sehr wichtig ist. Sie sagen auch, dass sie sich entsprechend verhalten. Das stimmt aber sehr oft nicht mit dem, was sie tatsächlich machen, überein.

Zum Beispiel?
In einer Studie des deutschen Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, dem Öko-Barometer 2022, gaben knapp 40 Prozent der Befragten an, häufig beziehungsweise ausschließlich Bio-Lebensmittel zu kaufen. Deren Marktanteil lag aber 2022 Jahr bei nur rund sieben Prozent. Es klafft also eine riesengroße Lücke zwischen dem, was Menschen zum Umweltschutz sagen, und dem, was sie wirklich dafür tun.

Wie erklären Sie sich das?
Da sehe ich eine ganze Reihe von Gründen – persönliche und gesellschaftliche.

Fangen wir mit den persönlichen Gründen an.
Zunächst: Ich glaube nicht, dass die Menschen lügen. In dem Moment, in dem sie befragt werden, nehmen sich die meisten Menschen als nachhaltige Konsumenten wahr – und möchten auch so gesehen werden. Wenn dann aber zum Beispiel der Bio-Kaffee deutlich teurer ist als der herkömmliche Kaffee, entscheiden sich die meisten für das billigere und gegen das Bio-Produkt. Hinzukommt, dass wir unsere Gewohnheiten lieben – je älter wir sind, desto mehr. Menschen dazu zu bringen, ihre Gewohnheiten zu verändern, gilt als eine der herausforderndsten Aufgaben, denen man sich überhaupt stellen kann.

Auf der persönlichen Ebene spielen also Gewohnheit und Preis eine große Rolle. Und gesellschaftlich?
Staat und Wirtschaft zeigen sich nicht besonders engagiert, das aktuell herrschende Wirtschaftssystem nachhaltiger zu gestalten. Beide setzen weiterhin auf ein stetiges Wirtschaftswachstum als Wohlstandsmotor. Bei jeder Wachstumsdelle werden sofort Horrorszenarien von Wohlstandsverlusten und Massenarbeitslosigkeit an die Wand gemalt. Und für die Unternehmen zählt in erster Linie die Rendite und dann, irgendwann, kommt auch die Nachhaltigkeit. Insofern ist weder von der Politik noch von der Wirtschaft zu erwarten, dass sie Menschen ermuntern werden, freiwillig weniger zu konsumieren.

Da habe ich gleich zwei Nachfragen.

Gerne.

Zum einen: Können wir denn auf Wachstum verzichten?
Viele Länder brauchen tatsächlich Wachstum, weil es in der Lage ist, Menschen aus der Armut herauszuführen. Aber für uns in den reichen Ländern ist das anders. Wir richten mit unserer Wachstumsideologie die Erde und das Klima zugrunde. Für die Bereitstellung der jährlich weltweit verbrauchten nachwachsenden Rohstoffe wären 1,75 Erden erforderlich. Wir haben aber diese zusätzliche dreiviertel Erde nicht, also betreiben wir Raubbau an dem Planeten und beuten ihn aus. Ein stetiges Wirtschaftswachstum in einer Welt begrenzter Ressourcen ist nicht möglich. Wir können aber der Verschwendung Einhalt gebieten, ohne unser Wohlbefinden zu gefährden.

Zum anderen: Unternehmen, die keinen Gewinn machen, haben keine Zukunft, oder?
Ja, Gewinne sind nötig, sonst droht die Insolvenz mit allen Folgen. Es kommt aber darauf an, wie die Gewinne erzielt und wofür sie eingesetzt werden. Viele Unternehmen handeln inzwischen nachhaltig. Sie kümmern sich um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, achten auf Klimaschutz und vermeiden die Verschwendung von Rohstoffen. Teilweise tun sie das freiwillig, teilweise werden sie durch Gesetze dazu verpflichtet. Allerdings gilt weiterhin das ökonomische Streben nach „mehr“, mehr Verkäufe, mehr Umsatz, mehr Rendite. Die immer weiter zunehmende Produktion kurzlebiger Massenprodukte ist mit einer klimaneutralen Wirtschaft nicht zu vereinen. Es gibt aber auch Unternehmen, die heute schon ihren Gewinn dadurch erzielen, dass sie ökologisch verträgliche, hochwertige und vor allem langlebige, reparaturfähige Produkte herstellen und verkaufen. Diese Strategie vereint unternehmerische Rendite-Interessen und Klimaschutzziele.

Ist die Unsicherheit in Zeiten von Pandemie und Krieg ein weiterer Umstand, der Veränderung schwieriger macht?
Aus der sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung wissen wir, dass solche Umstände den Selbsterhaltungstrieb des Menschen, seinen Egoismus, beflügeln. Dann geht es rückwärts, was den Umwelt- und Klimaschutz betrifft. In einer bedrohlichen Situation fokussieren sich Menschen auf ihre unmittelbarsten Bedürfnisse. Das ist zwar verständlich, blendet aber aus, dass die Menschheit nur gemeinsam, kooperativ und solidarisch gegen den globalen Klimawandel erfolgreich vorgehen kann.  Egoistisches Handeln bedroht die Lebensgrundlagen der Menschen und die Zukunft der Jugend.

Was hilft, mit weniger Wohlstand zu leben?
Wissenschaftlich gesehen ist die Antwort relativ einfach: Wir Menschen müssen lernen, selbstbestimmter zu leben. Dazu gehört, sich Klarheit zu verschaffen über die eigenen Werte, Bedürfnisse, Interessen, Begabungen und Schwächen sowie über die eigene Identität. Sich frei machen von herrschenden Konsumerwartungen. Menschen, die selbstbestimmt handeln, konsumieren häufig deutlich weniger als andere – auch wenn sie ein prall gefülltes Portemonnaie haben. Für diese Menschen ist Genügsamkeit kein Verzicht, kein Opfer und keine Entbehrung, sondern ein Mehr an Zufriedenheit, Lebensqualität und Wohlbefinden.

Sie sprechen von Genügsamkeit. Wie passen Genügsamkeit und Wohlstand zusammen?
Wohlstand ist ein Begriff, der sehr unterschiedlich interpretiert wird. Ökonomen verstehen darunter einen materiellen bzw. finanziellen Wohlstand, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) beziehungsweise dem jährlichen Durchschnittseinkommen je Einwohner. Aber diese Größe hat nur wenig mit dem Glück, der Zufriedenheit und dem Wohlbefinden von Menschen zu tun. Analysen des World Happiness Report zeigen, dass das persönliche Wohlbefinden langfristig nicht dem Wirtschaftswachstum folgen muss. Nach dem Glücksatlas 2021 der Deutschen Post sind die Menschen in Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt die Glücklichsten in Deutschland. Beides Länder, deren Wirtschaftsleistung vergleichsweise gering ist. Deswegen unterscheide ich zwischen materiellem Wohlstand und persönlichem Wohlbefinden. Genügsamkeit richtet sich auf ein sinnhaftes und erfülltes Leben und fördert das Wohlbefinden.

Wie kann man Menschen für die Genügsamkeit gewinnen?
Das ist eine große Herausforderung, ein harter Brocken, weil so vieles dagegen arbeitet, das Streben nach stetigem Wirtschaftswachstum genauso wie verschwenderische Konsumgewohnheiten. In sämtlichen Bereichen der Gesellschaft, angefangen im Elternhaus und in der Schule, müsste der Wille zu einem selbstbestimmten und selbstverantwortlichen Leben gefördert werden. Dazu müssen Menschen ihre Konsumbedürfnisse reflektieren können. Nur so sind sie in der Lage zu erkennen, welcher Konsum für sie notwendig und nützlich ist und auf welchen Konsum sie locker verzichten können.

Manche Menschen können gar nicht mehr verzichten.
Von Menschen, die mit ihrem Geld kaum über die Runden kommen, kann man nicht verlangen, dass sie sich einschränken sollen. Wo das Geld für existenziell notwendige Güter gebraucht und ausgegeben wird, stellt sich die Frage nach Konsumverzicht nicht. Nachhaltiger Konsum umfasst insofern auch die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit. Nicht die Armen, sondern die Reichen konsumieren verschwenderisch. Und das muss sich ändern.

Sie setzen auf die Mündigkeit des einzelnen Menschen. Reicht das aus?
Da sprechen Sie einen wunden Punkt an. Wir Menschen haben zwar einen eigenen Kopf, ein Bewusstsein, und wir sollten unsere Bedürfnisse kennen. Eigentlich müssten alle von selbst zu dem Schluss kommen, dass verschwenderische Konsumstile mit dem Erhalt einer lebenswerten Natur nicht vereinbar sind. Es geht darum, Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Jugend zu übernehmen, die auch gerne in eine lebenswerte Zukunft blicken möchte.  Genügsamer Konsum ist ein geeignetes Mittel, die Erde zu retten und der Jugend wieder mehr Zuversicht zu geben.
Regierungshandeln, das auf Verbote setzt, sollte die Ultima Ratio sein, also erst dann greifen, wenn wohlhabende Bürger es freiwillig nicht hinkriegen, mit weniger auszukommen. Die geringen Fortschritte bei der Bekämpfung des Klimawandels erzeugen bei mir allerdings den Eindruck, dass es so weit kommen kann, dass nur noch sehr restriktive gesetzliche Verbote den Klimakollaps verhindern können. Dennoch habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass genügend Menschen freiwillig ihren Konsum reduzieren werden.   

Vielen Dank für das Gespräch!

Peter Forst

Foto: privat

Ingo Balderjahn,
geboren 1952 in Kiel, lehrt seit 1993 an der Universität Potsdam. Seit April 2018 ist er Inhaber der Seniorprofessur für Betriebswirtschaftslehre und Marketing. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen nachhaltiges Management und nachhaltiges Konsumentenverhalten sowie Konsumverzicht.

In seinem Buch “Lust auf Verzicht”, das im Januar 2024 erschienen ist, geht Ingo Balderjahn einem Widerspruch nach: Vielen Menschen ist bewusst, dass der globale Klimawandel bedrohlich zunimmt und sie bekennen sich zum Klimaschutz, dennoch verhalten sie sich weiterhin ungebremst verschwenderisch und klimaschädlich. Offenbar meinen viele einen Klimaschutz, der persönlich nichts kosten und nichts verändern darf. Ingo Balderjahn schreibt auch über eine Minderheit, die deutlich weniger konsumiert, als sie sich finanziell leisten kann. Diese Menschen verzichten freiwillig auf eher unnötige und kurzlebige Güter – ohne irgendetwas zu entbehren. Sie erleben dabei, dass genügsame Konsumgewohnheiten die persönliche Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Zufriedenheit stärken.



Hat Ihnen der Artikel gefallen? Möchten Sie mehr von uns lesen? Dann können Sie hier das Magazin NEUE STADT abonnieren oder ein kostenloses Probe-Heft anfordern.
Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2023.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.