2. August 2023

Die Langstreckenläuferin

Von nst5

Eszter Kormányos stammt aus Ungarn,

lebt aber seit mehr als zehn Jahren in Deutschland. In ihrer Jugend hat sie Leistungssport betrieben. Das prägt sie bis heute.

Eszters Trainer war außer sich. Der sonst so besonnene Mann rannte zu den Schiedsrichtern und beschwor sie, die Disqualifikation zurückzunehmen. Vergeblich. Hundert Meter vor dem Ziel war das Drei-Kilometer-Gehen bei den ungarischen Meisterschaften für die 14-jährige Eszter Kormányos beendet. Ein Rennen, das sie wohl mit einem Podiumsplatz beendet hätte. Wiederholte technische Fehler, lautete der umstrittene Vorwurf.
„Das war eine riesige Enttäuschung“, erinnert sich die heute 41-jährige Landschaftsarchitektin. „Ich war mit großen Hoffnungen in diesen Wettkampf gegangen. Aber aus dieser Erfahrung habe ich viel gelernt.“

Foto: (c) Anja Lupfer

Eszter Kormányos wurde im September 1981 in Budapest geboren. Ihre Mutter Krisztina hat jüdische Vorfahren, reformorientierte und heimattreue ungarische Juden. Mit Zipser Maier (1815-1869) gehört sogar ein bekannter Rabbiner dazu. Anfang des 20. Jahrhunderts änderten sie ihren Familiennamen von „Deutsch“ in „Deák“ und konvertierten zum Christentum. Dennoch wurden sie von den Nationalsozialisten verfolgt – ihr Urgroßvater kam in das Konzentrationslager Dachau, ihre Urgroßmutter und Großmutter nach Auschwitz.
Die beiden Diktaturen in Ungarn – Faschismus und Sozialismus – haben Eszters Familie zugesetzt. Sie hat mehrfache Enteignungen durch die jeweilige Diktatur mit Würde getragen und den nachfolgenden Generationen damit ein starkes Beispiel von Menschen hinterlassen, die in den schwierigsten Lebenssituationen immer wieder aufgestanden sind, und ihrem Gewissen gefolgt sind.
Ihr Vater József stammt aus Csongrád im Süden Ungarns. Vom 14. Lebensjahr an besuchte er die Schule und das Internat der Benediktinerabtei Pannonhalma im Nordwesten Ungarns. Die Benediktiner waren damals der einzige Orden, der nicht verboten worden war. Seine Mutter meinte, das älteste Kloster des Landes sei im sozialistischen kirchenfeindlichen Nachkriegsungarn ein „sicherer Ort“ für ihren Jungen. Nach dem Schulabschluss trat József bei den Benediktinern ein. Später erkannte er jedoch, dass das Kloster nicht sein Platz war, und verließ den Orden.
Sowohl Krisztina als auch József haben französische und ungarische Sprach- und Literaturwissenschaften studiert. Kennengelernt haben sie sich bei einem gemeinsamen Studienfreund. Weltoffenheit prägte das Klima in der Familie Kormányos. Krisztina unterrichtete Ungarisch als Fremdsprache für junge Menschen, die in Ungarn studieren wollten, und nahm ihre beiden Töchter gerne zu Ausflügen mit, wo sie Studenten aus anderen Ländern begegnen konnten.

Foto: (c) Anja Lupfer

Eszter Kormányos hat als Elfjährige mit dem Leistungssport begonnen. Der Weg dorthin war ein wenig kurios. Ihr Talent hatte sich zwar schon früh gezeigt, doch war der Vereinssport lange kein Thema. Eines Tages kam Eszter mit einem herrenlosen Hund nach Hause. Sie wollte ihn behalten, doch die Nachbarn waren dagegen, sodass sie ihn wieder abgeben musste. Zum Glück fand sich ein neuer Besitzer. Eszter aber war sehr traurig; sozusagen als Trost durfte sie mit dem Training im Verein beginnen – zunächst zweimal, bald aber schon sechsmal pro Woche.
Ihr Trainer Róbert Zsoffay hat sie mit seiner Persönlichkeit sehr geprägt. Der heute 87-jährige Zsoffay, der 2020 vom ungarischen Trainerverband für seine Lebensleistung ausgezeichnet wurde, steckte Eszter und ihre Teamkolleginnen mit seiner Leidenschaft, seiner Kompetenz und seiner Haltung an. Hier erfuhr Eszter eine starke Gemeinschaft, ja Freundschaft und Familiarität.
Der Sport hat sie entscheidend geformt. „Ich bin erst so geworden“, antwortet sie entschieden auf die Frage, ob der Sport nur etwas verstärkt habe, was ohnehin in ihr angelegt war. „Vorher war ich nicht zu stoppen, immer etwas unruhig.“ Das Training habe ihr geholfen, Disziplin und Durchhaltevermögen zu entwickeln und die Überzeugung, dass es Arbeit bedeutet, wenn man Ziele erreichen will.

Foto: (c) Magga Hovestadt

Neben der Familie und dem Sport gab und gibt es ein weiteres Element, das Eszters Leben prägt: ihre Beziehung zu Gott. Als Teenager habe das Erleben von Gottes allumfassender Liebe sie getragen. Zu erkennen, dass Gott alle liebt, für alle da ist, sei angesichts der Armut und der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit besonders wichtig gewesen. „Vielleicht war ich etwas naiv, aber ich habe auch meinen Freunden begeistert davon erzählt.“
Ein paar Jahre später war es die Entdeckung von Jesus am Kreuz, die ihr Bild von der allumfassenden Liebe vollständiger gemacht habe. „Er hat in der tiefsten Verlassenheit nicht aufgehört zu lieben. Wo sonst gibt es so eine Liebe?“, stellte sie auf dem Hintergrund des weitverbreiteten Egoismus in der Welt fest.
Heute erfährt sich Eszter in ihrer Beziehung zu Gott eher als Suchende – nicht in dem Sinne, dass etwas von dem verloren gegangen sei, was diese Beziehung seit vielen Jahren ausmacht, sondern aus der Überzeugung heraus: „Da ist noch mehr als das, was ich bisher verstanden und gelebt habe.“
Ihre Mutter hatte Anfang der 1980er-Jahre über eine Freundin die Fokolar-Bewegung kennengelernt. Auch Eszter und ihre Schwester engagierten sich als Kinder und Jugendliche dort, während ihr Vater – vielleicht auch wegen seiner Zeit im Orden – auf Abstand blieb.
Nach dem Abitur im Jahr 2000 entschied sich Eszter, für ein Jahr in der Fokolar-Siedlung Loppiano (Italien) zu leben, um ihre Beziehung zu Gott zu vertiefen und Klarheit für ihren weiteren Weg zu bekommen. Das bedeutete zugleich, mit dem Leistungssport aufzuhören ­– eine schwere Entscheidung. Doch es war ihr wichtiger, den Lebensfragen Raum zu geben.
Bis heute ist der Sport von hoher Bedeutung für sie. „Drei- bis viermal in der Woche laufe ich einfach los. Das hilft mir, zu mir selbst zu finden.“ Und im übertragenen Sinne ist die Langstrecke bis heute ihr Lebensthema geblieben.

Foto: privat

Die Zeit in Loppiano war für Eszter Kormányos eine Bestätigung für das, was seit einiger Zeit in ihr reifte: der Wunsch, in eine Fokolar-Gemeinschaft einzutreten und den Gott zu bezeugen, der sich ihr als allumfassende Liebe gezeigt hatte. Zunächst aber kehrte sie nach Budapest zurück und begann ihr Studium der Landschaftsarchitektur. Nach dem ersten Studienabschnitt, dem Bachelor, folgte 2004 – wieder in Loppiano – die erste Phase der Vorbereitungszeit auf das Fokolarleben.
Danach begann eine schwierige Zeit für Eszter. Inzwischen in der Budapester Fokolargemeinschaft zu Hause und sehr an deren Aktivitäten beteiligt, setzte sie ihr Studium fort. In dieser Zeit erkrankte ihr Vater an Krebs und starb nur kurze Zeit später im Januar 2006. Einige Menschen, die ihr nahestanden, wurden in dieser Zeit von schmerzlichen Ereignissen erschüttert, und damit begann auch für sie eine Zeit der Dunkelheit.
Eszter: „Das war zu viel für mich – körperlich und auch seelisch.“ Heute, mit dem Abstand von mehr als 15 Jahren, sieht sie manches Verhalten kritisch – bei sich selbst und bei anderen. Geholfen haben ihr damals der Glaube, die Familie und ihr Durchhaltevermögen. Die Langstrecke eben.
Seit Dezember 2009 lebt Eszter Kormányos in Fokolargemeinschaften in Deutschland, zunächst in Ottmaring (bei Augsburg), dann in Augsburg selbst und seit einem Jahr in München.
Sie fühlt sich wohl in Deutschland – auch, weil es wohl mehr Gemeinsamkeiten zwischen Ungarn und Deutschland gibt, als man auf den ersten Blick annehmen würde. Eszter: „Ungarn und Deutschland sind Teil von Mitteleuropa. Die Entfernung zwischen beiden Ländern ist gar nicht so groß. Geschichtlich haben wir vieles gemeinsam erlebt, wenn auch nicht immer auf der gleichen Seite.“ Augenzwinkernd fügt sie hinzu: „Nicht zu vergessen die Küche: Ragout wird in Deutschland ganz selbstverständlich Gulasch genannt, auch wenn die Bedeutung und Herkunft des Wortes gulyás den meisten Menschen hier wohl unbekannt ist.“
Als sie nach Deutschland kam, brachte sie „nur“ einige Jahre Deutschunterricht in der Schule mit. Heute spricht Eszter ein exzellentes Deutsch. Sprache ist ihr wichtig. Das hat einerseits mit ihrer Herkunft zu tun: „Ungarin zu sein bedeutet, in dem Bewusstsein zu leben, Teil eines Mini-Volkes zu sein, mit einer Sprache, die nirgendwo hinpasst – also weder germanischen noch slawischen noch romanischen Ursprungs ist.“ Und: „Der ungarische Sprachgebrauch ist spielerisch, mehrdeutig, verwendet viele Bilder und drückt oft Emotionen aus. Ich amüsiere mich gerne mit doppelsinnigen Sprüchen – was auf deutscher Seite allerdings nicht immer als lustig empfunden wird.“

Foto: (c) Magga Hovestadt

Andererseits ist die Sprache das vielleicht wichtigste Vehikel, um in einer anderen Kultur heimisch zu werden, um Beziehungen in einer gewissen Tiefe leben zu können. Und auch hier erweist sich Eszter Kormányos als Langstreckenläuferin. Sie ist davon überzeugt, dass Beziehungen Zeit brauchen, miteinander im gegenseitigen Zuhören verbrachte Zeit: „Nur miteinander zu arbeiten, nur darauf zu achten, dass die Abläufe funktionieren, das reicht nicht. Dann bleibt zu vieles offen und unverstanden.“
Denn bei aller Nähe und allen Gemeinsamkeiten: Als Ungarin in Deutschland zu leben, ist nicht immer ein Vergnügen. Wenn Eszter sagt, woher sie kommt, dann gibt es regelmäßig Anspielungen auf die ungarische Politik – ohne großes Interesse daran, wie sie die Dinge sieht. Auch die Aussage: „Ihr seid gar keine Europäer!“ hat sie schon gehört. Und immer wieder erlebt sie, dass Ungarn verschwommen als Teil des zurückgebliebenen „Ostblocks“ wahrgenommen wird und die einzelnen Länder mit ihrer Geschichte und ihren Eigenschaften gar nicht gesehen werden.
Sie selbst steht der Regierung ihres Heimatlandes sehr kritisch gegenüber, aber sie ärgert sich über die nicht hinterfragten Vorurteile über Ungarn und die Tatsache, dass es so gar kein Bewusstsein für die vielfältige Opposition dort gibt. „In vielen Fällen“, so sagt sie, „würde es ausreichen, sich an die ‚Goldene Regel‘ zu erinnern: Einfach immer wieder einmal im Reden über Ungarn, das Wort ‚Ungarn‘ durch ‚Deutschland‘ ersetzen und darauf achten, wie man sich dann fühlt.“

Foto: (c) Anja Lupfer

Beziehungen brauchen Zeit. Vertrauen muss wachsen können. Die Freiheit des anderen will unbedingt anerkannt werden. All das – und manches mehr – spielt hinein, wenn Eszter Kormányos sagt, dass sie aus der Enttäuschung beim Gehwettbewerb damals als 14-Jährige viel gelernt habe. Vermeintliche Rückschläge sind Teil des Weges. Ihr Trainer Róbert Zsoffay hatte Eszter beigebracht, Erfolge nicht überzubewerten, Enttäuschungen aber auch nicht. Einen Monat nach der Disqualifikation im Gehen trat sie wieder bei einem nationalen Wettkampf an – diesmal zum 8000-Meter-Lauf und ohne große Hoffnungen, auf einem der vorderen Plätze zu landen. Und siehe da: Sie gewann die Silbermedaille. Manchmal geht es auch schnell. Auf dem Sportplatz und im Leben. Manchmal
Peter Forst


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Juli/August 2023.
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