5. Oktober 2023

Herausforderung Stille

Von nst5

Nach den Ferien hat uns das normale Leben wieder.

Stille Momente sind da für viele ein Luxus. Wie können wir trotzdem in jene innere Stille finden, in der wir Gottes Gegenwart spüren können und die uns für den Alltag stärkt?

Der Sommer ist vorbei und damit für viele auch die Ferienzeit. Es tat gut, das Tempo etwas herunterzufahren. Nun hat uns der Alltag mit seinen Herausforderungen und seiner Geschäftigkeit wieder. Oft blicke ich am Abend auf meinen Tag und frage mich, wo er geblieben ist. Ich war die ganze Zeit beschäftigt und kann mich doch kaum daran erinnern, was ich alles getan habe.
Wir erleben an uns, in unserem Umfeld und in der Gesellschaft, wie diese Geschäftigkeit auch zu einer Negativspirale werden kann. Sie gefährdet das psychische Gleichgewicht und kann ernsthafte Krankheiten nach sich ziehen: Depressionen, Burnout, … So klagen auch erschreckend viele junge Menschen über Angsterfahrungen. Nicht zuletzt deshalb haben in den letzten Jahren Achtsamkeitsübungen einen regelrechten Trend erlebt.
Die Frage, wie wir auch im alltäglichen Leben Raum für Ruhe und Stille finden, ist deshalb nicht nur nach den Ferien legitim. Achtsamkeitsübungen können da tatsächlich ein guter Weg sein. Sie helfen vielen, im Einklang mit sich, mit der inneren Mitte zu leben. Wenn wir genau hinschauen, kennt aber auch die christliche Tradition viele „Methoden“, innezuhalten und mit uns selbst und Gott in Beziehung zu treten.
Stille hatte in der Geschichte der christlichen Spiritualität immer ihren Platz. Auch Jesus hat sich auf einen Berg zurückgezogen, um allein zu beten, wenn er sich auf eine wichtige Mission vorbereitete oder sie abschloss. 1 Die frühen Wüstenväter und -mütter entwickelten dem Beispiel Jesu folgend verschiedene Formen des kontemplativen Gebets. Sie wollten sich so von der Welt und ihren Versuchungen zurückziehen. Manche ihrer spirituellen Werkzeuge erfuhren in den letzten Jahren eine Wiederbelebung. Ein Beispiel dafür ist das „Gebet der Sammlung“ 2, das der amerikanische Trappistenmönch Thomas Keating entwickelt hat; es hilft, auch ohne Worte die Beziehung zu Gott zu vertiefen. Eine andere Form ist die „lectio divina“ 3, ein langsames betendes Lesen einer Schriftstelle, die mit einem Moment der Stille und des Ruhens in Gott endet.

Zentriert leben
In der Vergangenheit hat man solche Ausrichtungen, die das Schweigen oder den Rückzug förderten, oft als „individuelle Spiritualität“ charakterisiert. Manchmal schien es, als stünde sie im Gegensatz zu einer eher gemeinschaftlich orientierten Spiritualität wie jener der Fokolar-Bewegung. Unsere Zeit brauchte sicher auch Wege, Gott mitten in der Welt begegnen zu können: also eine Spiritualität, die Nächstenliebe als Ort der Begegnung mit Gott unterstreicht und betont, dass Gott nicht nur in den Tiefen unserer Seele zu finden ist, sondern auch in den Herzen unserer Schwestern und Brüder wohnt und unter uns gegenwärtig ist, wenn Menschen im Namen Jesu zusammen sind 4.
Trotzdem hat Chiara Lubich auch in einem gemeinschaftlichen Leben die Notwendigkeit von Stille betont. So ermutigte sie dazu, innerlich verwurzelt zu sein, wie Maria, die Mutter Gottes, sodass auf dem inneren Schweigen das Wort, Gott selbst, sprechen kann. 5 Und Pasquale Foresi, Mitbegründer der Fokolar-Bewegung, sagte über das Gebet: „Wir müssen uns daran gewöhnen, auf ihn (Gott) zu hören, denn er spricht immer zu uns. Es geht nicht darum, eine äußere Stille zu erreichen, sondern vielmehr um eine innere Stille … Wir brauchen diese innere Stille, um auf Jesus zu hören.“ 6

Illustration: (c) juliawhite (iStock; bearbeitet von elfgenpick)

Wie können wir also Raum für Stille in unserem täglichen Leben schaffen? Es ist tatsächlich eine Herausforderung und erfordert ein gewisses Maß an Disziplin und den festen Vorsatz. So ist es ja nicht immer angenehm, innezuhalten und nach innen zu lauschen. Denn es kann sein, dass wir auch in uns viel „Lärm“ wahrnehmen – verschiedene Stimmen und Gefühle, die von Verletzungen und Ängsten sprechen. Es ist dann einfacher, sich abzulenken, anstatt sich damit auseinanderzusetzen.
Allerdings scheint es heute wichtiger denn je, in uns selbst verwurzelt zu sein, in uns hineinzuhören, anstatt reflexartig auf die unterschiedlichen Botschaften zu reagieren, die auf uns einprasseln. Ein geistlicher Autor des 20. Jahrhunderts, Henri Nouwen, drückt das so aus:

„Irgendwie wissen wir, dass ohne Stille Worte ihren Sinn verlieren, dass ohne Zuhören Sprechen nicht mehr heilt, dass ohne Distanz Nähe nicht möglich ist. Irgendwie wissen wir, dass ohne einen einsamen Ort unsere Handlungen schnell zu leeren Gesten werden. Das sorgfältige Gleichgewicht zwischen Schweigen und Worten, Rückzug und Engagement, Distanz und Nähe, Einsamkeit und Gemeinschaft bildet die Grundlage des christlichen Lebens und sollte daher Gegenstand unserer persönlichen Aufmerksamkeit sein.” 7

Tipps für den Alltag
Nur wenige können sich den Luxus leisten, längere Zeit in Stille zu verbringen, so wertvoll das auch ist. In meiner Erfahrung kommt es auch nicht so sehr auf die Länge, sondern auf die Qualität dieser Momente an. Hier ein paar Hinweise, die helfen können, auch mitten in unserem Leben als Eltern, Berufstätige oder sozial Engagierte im Alltag solche Momente einzuschieben:

  • Mit Fantasie nach Auszeiten suchen: Eine junge Erwachsene erzählte mir, dass sie auf ihrem Heimweg von der Arbeit in einem Café anhält, um dort in Ruhe bei einer Tasse Kaffee in der Bibel zu lesen. Ein anderer findet Ruhe und Zeit zum Nachdenken, weil er nicht die Haltestelle vor der Haustür nimmt, sondern ein paar Straßen bis zur nächsten zur Fuß geht.
  • Kleine Momente des „Innehaltens“ während des Tages. Ab und zu innehalten im Tun und achtsam werden für die Umgebung: Was höre ich? Was sehe ich? Was rieche oder schmecke ich? Wofür bin ich gerade dankbar? Ist Gott irgendwie präsent?
  • Eine Absicht setzen: Anstatt von einer Aufgabe zur nächsten zu hecheln, einen Moment innehalten und mich fragen: Warum tue ich das? Oder: Für wen tue ich das? Was ist mir wichtig bei dem, was ich tue? Vielleicht kann ich meine Absicht in Worte fassen: Ich tue das für/weil…
  • Zeit des Gebets oder der Meditation einplanen: Das ist einfacher, wenn es einen festen Platz hat, wie das Zähneputzen. Am Anfang reichen kleine Ziele, die machbar sind – fünf Minuten, aber ganz da sein: einen Moment mit Gott sprechen, eine kurze Schriftstelle lesen oder einfach in Stille sitzen und in den Körper hineinspüren: Was spricht da gerade in mir?

Ich bin überzeugt, dass sich unsere Welt nicht nur durch unser Tun verändern wird, sondern auch durch die Kraft unserer Stille, durch unseren inneren Frieden und unsere Verbindung mit Gott und in Gott mit uns selbst und miteinander.
Birgit Oberhofer

Birgit Oberhofer, Jg. 1974, lebt in einer Fokolargemeinschaft in Ottmaring (bei Augsburg) und war davor 15 Jahre in den USA. Dort hat sie eine Ausbildung in Geistlicher Begleitung gemacht und vor allem Jugendliche und junge Erwachsene begleitet.

1 vgl. Matthäus 14,23, Lukas 6,12
2 Zum „Gebet der Sammlung“: www.centering-prayer.org
3 www.lectiodivina.de/ueber-lectio-divina/was-ist-lectio-divina
4 vgl. Matthäus 18,20
5 Chiara Lubich, Alle sollen eins sein, S.13
6 Pasquale Foresi, in: Città Nuova, 2. Februar 2004
7 henrinouwen.org/meditations/where-to-put-our-attention (eigene Übersetzung)


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, September/Oktober 2023. (c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München.
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