5. Dezember 2023

Ein Winter mit Anastasia

Von nst5

Hans Jurt

Hans Jurt, New York. – Foto: privat

Für die Fokolargemeinschaft in Harlem (New York) ist die Begegnung mit obdachlosen Menschen Alltag. Sie erzählen, was passieren kann, wenn man nicht wegsieht.
Hans Jurt, Christian Veldboer, Paul Catipon und Paul Belcher bilden ein Fokolar in New York, also eine Lebensgemeinschaft von Menschen, die mitten in der Welt für Gott leben wollen. Vor gut drei Jahren sind sie aus dem vor allem von Weißen bewohnten Stadtteil East Village nach Harlem gezogen. Die Begegnung mit der obdachlosen Anastasia* hat ihr Leben verändert.

* Name von der Redaktion geändert.


Seit dem Sommer 2020 ist unser Fokolar im New Yorker Stadtteil Harlem zu Hause. Harlem ist ein überwiegend von Afroamerikanern bewohntes Viertel mit einem durchschnittlichen Einkommen von 50 000 Dollar pro Jahr, das ist gut ein Drittel von dem, was Menschen in Midtown Manhattan verdienen.
Neben der Armut und der offensichtlichen Benachteiligung aufgrund der Hautfarbe sind uns vor allem die vielen Menschen ohne Obdach aufgefallen. Eine von ihnen, Anastasia*, lebte in unserer Straße. Im Gespräch mit ihr verstanden wir nach und nach die gewaltigen Schwierigkeiten, denen sie als Obdachlose begegnet.
Anastasia, die ursprünglich aus der Ukraine stammt, erzählte uns, dass sie auf der Suche nach einer neuen Lebensperspektive nach New York gekommen war, dann aber ausgeraubt wurde, ohne Geld und Dokumente zurückblieb und schließlich auf der Straße landete.
In den kalten Dezembertagen haben wir in unserem Fokolar viel über ihre Situation gesprochen und ihr schließlich angeboten, für ein paar Tage in unser Gästezimmer zu ziehen. Aber Anastasia lehnte ab. Den ganzen Winter über blieben wir im Kontakt. Eines Tages bat sie uns schließlich erstmals um einen Gefallen: „Könnt ihr mir einen Kaffee bei McDonalds kaufen?“ Ein paar Tage später bat sie um einen Muffin zusammen mit dem Kaffee. Nach und nach wuchs das Vertrauen und die Beziehung vertiefte sich.
Im Februar nahm Anastasia unser Angebot an, in unserem Gästezimmer zu bleiben. Während ihres Aufenthalts bemühte sie sich, uns nicht zu belasten. Sie blieb in ihrem Zimmer und lehnte es ab, mit uns zu essen. Wir haben eine Zeit gebraucht, das zu respektieren und sie so zu lieben, wie sie geliebt werden möchte. Wir konnten ihr dabei helfen, die notwendigen Unterlagen zusammenzustellen, um einen Termin bei der ukrainischen Botschaft zu bekommen. Sie erreichte ihren Sohn in der Ukraine und stellte erfreut fest, dass er bereit war, sie bei seiner Familie aufzunehmen.
Nachdem sie fast drei Wochen bei uns gewohnt hatte, bekam sie ihre Reisedokumente und ihr Flugticket in die Ukraine. Mit neuer Hoffnung kehrte Anastasia in ihr Land zurück, um bei ihrer Familie zu leben! Das war vor dem Krieg. Wir wissen nicht, wie es ihr heute geht. Im Gebet sind wir ihr weiter nahe.
Bei verschiedenen Gelegenheiten konnten wir die Geschichte mit Anastasia weitererzählen und die Situation der Obdachlosen rund um unser Fokolar. Daraufhin erhielten wir E-Mails von zwei Freunden des Fokolars. Sie sagten, unser Leben mit armen Menschen habe sie sehr berührt und dass sie dies gerne mit einer größeren Summe unterstützen möchten.
Inzwischen sind wir in unserer Pfarrei in ein regelmäßiges Leben mit bedürftigen Menschen eingebunden, nicht nur Obdachlosen. Etwa 15 Personen aus der Fokolar-Bewegung nehmen daran teil. Wir können also sagen, dass Anastasia unser Leben verändert hat. Dafür sind wir ihr bis heute dankbar.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2023.
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