6. Dezember 2023

Als gäbe es sie gar nicht

Von nst5

Menschen, die auf der Straße leben müssen, haben es schwer.

Und wir übersehen sie leicht und schnell. Das sagt viel über uns und unsere Gesellschaft.


Haben Sie schon einmal im Freien übernachtet? Oder wussten nicht, wo Sie abends unterkommen können?
Sie ahnen es: Meine Fragen zielen nicht auf jene Nächte, die viele von uns zeltend, in gemütlicher Runde am Lagerfeuer oder auch im endlosen Gespräch über Gott und die Welt unter freiem Himmel verbracht haben. Freiwillig und gern also. Oder weil wir unterwegs waren, auf dem Jakobsweg etwa, und uns nicht schon im Vorfeld um die nächste Unterkunft gesorgt hatten. Aber ungewollt, weil wir nicht wussten, wohin? Mit all dem, was wir unser Eigen nennen, in Tüten, Taschen oder Koffern verpackt auf der Straße?
Eine sichere Unterkunft. Eine Wohnung. Einen Ort, der Schutz bietet vor Schaden und Bedrohung. Einen Platz, der Ungestörtheit und Entfaltung ermöglicht. Einen Rückzugsort, an den man immer wieder zurückkehrt. Für die meisten von uns ist das selbstverständlich.
Wohnen bedeutet sehr viel mehr als einfach ein Dach über dem Kopf haben. Aber selbst dieses Dach über dem Kopf ist für so viele Menschen in unserer Gesellschaft längst keine Selbstverständlichkeit mehr.
Steigende Mietpreise, zu wenig Wohnraum – insbesondere in Ballungsräumen und ihren Einzugsgebieten – und die hinzukommende Inflation bringen immer mehr Menschen in echte Bedrängnis.

Illustration: © TopVectors (iStock)

Ein Maßstab – wenn man so will – für die Größe der Not sind die sogenannte Miet- und die Wohnkostenbelastung. Die beiden Kennzahlen geben an, wie viel ein Haushalt vom verfügbaren Haushaltseinkommen für Miete oder Wohnkosten ausgibt. So hatten nach Angaben des Statistischen Bundesamts 2022 3,1 Millionen Haushalte in Deutschland eine Mietbelastung von 40 Prozent und mehr. Und weil Wohnungen ein knappes Gut am Markt sind, versuchen manche Menschen daraus auch Profit zu schlagen – eine Spirale nach oben. Spekulation. Leerstand. Mietwahnsinn. Der Ruf nach sozialverträglichen Lösungen wird immer lauter. Nicht zuletzt die Wohlfahrtsverbände machen immer öfter und längst nicht mehr nur in den kalten Wintermonaten auf die besorgniserregende Lage aufmerksam.
Wohnungslosigkeit wird zu einem immer größeren Problem. Und sie hat immer vielfältigere Gesichter. Wenn die wirtschaftliche Lage angespannt ist, führen kritische Lebensereignisse wie Trennung, Arbeitslosigkeit, Tod des Partners beziehungsweise der Partnerin, Sucht oder Krankheit schnell zu einer Situation, in der Mietschulden angehäuft werden. Obwohl die betroffenen Menschen sogar arbeiten, eine Anstellung haben. Trotzdem kommt es zu Räumungsklagen und dann – wenn kein günstiger Wohnraum gefunden werden kann – zu Wohnungslosigkeit. Zwar sind die meisten Wohnungslosen in unseren Ländern immer noch Männer mittleren Alters, doch nimmt der Anteil an Frauen, Familien mit Kindern, Jugendlichen und älteren Menschen zu.
Ein fester Wohnsitz ist Rahmen und Voraussetzung für so vieles. Auch für unsere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Ohne Meldeadresse keine Arbeitssuche, keine Möglichkeit, rechtliche Ansprüche geltend zu machen oder ein Konto zu eröffnen. Wer keine Wohnung hat, rutscht an den Rand und oft durch alle Raster.
Auf der Straße leben. In Gesprächen für diese Ausgabe habe ich oft beschämt bemerkt, wie wenig Gedanken ich mir darüber gemacht hatte, was das für Menschen bedeutet. Und natürlich weiß ich es auch jetzt nicht wirklich. Was macht es mit jemand, der sich täglich fragen muss, wo es zu essen, zu trinken, eine Toilette oder Dusche gibt; wo er Schutz findet, wenn es regnet, schneit oder die Sonne vom Himmel sticht; was tun bei Krankheit oder Unfällen?
Auf der Straße ist jede und jeder erst einmal auf sich selbst gestellt und um das eigene Überleben bemüht. Aber – so berichten Streetworker – es gibt auch Solidarität und Freundschaft. Gefährlich ist das Leben auf der Straße aber in jedem Fall. Gewalt ist keine Seltenheit. Prominentestes Beispiel waren zuletzt im Sommer die Messerattacken auf drei obdachlose Menschen in Wien. Dort gehen die Ermittler davon aus, dass die Angriffe nicht von anderen Obdachlosen verübt wurden. Warum sticht jemand auf Menschen ein, die ohnehin schon am Boden liegen – und das im wahrsten Sinn des Wortes? Klar, auch unter den Wohnungslosen auf der Straße kann es zu Schlägereien und Gewalt kommen, insbesondere wenn Drogen und Alkohol im Spiel sind. Und egal, welches Motiv es in Wien letztlich war: dass man Obdachlose angreift, seine Emotionen an ihnen auslebt, sagt viel darüber, wie sie angesehen werden.

Illustration: © Denys Serebrennikov (iStock)

„Wohnungslose sind Menschen wie du und ich“, sagte mir ein Sozialarbeiter mit 40-jähriger Erfahrung in einem Telefonat. „Es geht immer um die Menschen. Darum, jeden als Individuum und in seiner Gesamtheit sehen. Mit Würde.“ Das ging unter die Haut. Überboten wurde das noch durch die Aussage: „Das Sehen ist das größte Problem überhaupt. Meist werden die Menschen einfach übersehen, so als gäbe es sie nicht.“ Ich fühlte mich ertappt; auch ich weiß oft nicht, wie ich mich verhalten soll – und schaue weg.
Unsicherheit, Hilflosigkeit, mehr oder weniger bewusste Vorbehalte, vielleicht sogar Urteile. Das kennzeichnet oft den Blick auf Menschen, die ohnehin in einer extrem schwierigen Lage sind, deren Selbstwertgefühl schon mehr als angeknackst ist. „Daher brauchen sie oft einfach erst einmal das Gefühl, dass man sie als Mensch wahr- und ernstnimmt. Ein Gruß, ein freundliches Wort, echtes Interesse“, unterstreicht der Sozialarbeiter. Natürlich hilft es dann auch, wenn man die Anlaufstellen und Unterstützungsmöglichkeiten in der eigenen Stadt kennt und gegebenenfalls darauf verweisen kann.
Für das vielschichtige Problem der Wohnungslosigkeit gibt es keine einfachen Lösungen. Und fast alle, die nahe dran sind an den Menschen und ihren Situationen, unterstreichen, wie wichtig ein gut vernetztes Vorgehen auch der professionellen Träger ist. Allein könne man fast nichts ausrichten.
Vor allem aber braucht es Menschen, die sich zu Anwältinnen und Anwälten der Betroffenen machen und die sich nicht mit der unmenschlichen und würdelosen Situation zufriedengeben. Weil es eine Schande für uns und unsere Gesellschaft ist, dass Menschen auf der Straße leben und sterben, weil sie einfach keinen anderen Platz haben.
Gabi Ballweg


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2023.
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