5. Dezember 2023

Sie legen den Finger in unsere Wunde.

Von nst5

Seit 30 Jahren arbeitet Maria Goetzens in Frankfurt am Main für Menschen auf der Straße.

Täglich sieht die Ärztin dabei, wie angespannt und komplex die Lage für Obdachlose ist und welche gesellschaftlichen Hürden es zu überwinden gilt. Sie schildert das ernüchternd realistisch und hat doch Hoffnung.

Schwester Maria, wie sind Sie in der Straßenambulanz gelandet?
Tatsächlich hätte ich nicht gedacht, dass ich als Ärztin einmal in einer Großstadt in Deutschland für kranke Menschen ohne Wohnung arbeite. Aber während meines Studiums konnte ich auf den Philippinen Armutsmedizin hautnah kennenlernen. Das hat mich nachhaltig geprägt. Während meiner Facharztausbildung zur Allgemeinmedizinerin habe ich dann die Erfahrung gemacht, dass wohnungs- und obdachlose Menschen in der Notaufnahme nicht so gern gesehen waren. Auch das hat mich geprägt und natürlich mein Hintergrund als Mitglied einer Ordensgemeinschaft, die zu denen geht, die am Rand der Gesellschaft stehen. So bin ich hier in Frankfurt an die Wohnungslosenhilfe geraten und habe viel gelernt über das Leben der Menschen und ihre Notlagen.

Was denn beispielsweise?
Arme Menschen gibt es nicht nur in Afrika, Asien oder Lateinamerika, sondern auch hier in unserem europäischen Kontext. Die Armen spiegeln mir, worauf es im Leben ankommt.

Nämlich?
Auf Gesundheit, und es ist wichtig, überhaupt gesehen, gehört zu werden, in Beziehung treten zu können und sich einbringen zu können – als Menschen, die von der Gesellschaft ausgeschlossen oder an den Rand gedrängt sind.
Ich musste schmerzlich lernen, dass es viele strukturelle Hürden gibt, die Menschen den Zugang zum Gesundheitssystem verhindern. Es gibt den Slogan: „Armut macht krank.“ Aber es gilt genauso: „Krankheit macht arm und grenzt aus.“

Da haben Sie viel zu tun.
Das stimmt. Und ich lerne, wie existenziell wichtig es ist, nicht als Einzelkämpferin unterwegs zu sein, sondern sich zu vernetzen. Professionelles Wissen ist das eine. Gleichzeitig muss ich mich kundig machen, welche anderen Akteure sich um die besondere Lebenslage von wohnungslosen Menschen kümmern: Wo gibt es Tagesaufenthalte, Essen, Duschmöglichkeiten und Kleidung? Wo eine Sozialarbeiterin oder einen Schuldnerberater? Um jemandem vom Rand der Gesellschaft einen Weg in die Mitte zu ermöglichen, müssen sehr viele Akteure zusammenwirken.

Kommen wir zu den Gründen, warum Menschen auf der Straße leben.
Oft steckt da eine ganze Lebensgeschichte dahinter. Auslöser sind sogenannte Live-Events: Eine Partnerschaft zerbricht, eine Suchtproblematik kommt hinzu, der Job geht verloren. Letzteres häuft sich nach Corona. Wenn Menschen nicht mehr ‚gebraucht‘ werden, sich sinnvoll einbringen können, der Minijob oder die Einnahmemöglichkeit wegfällt, ist die Miete nicht mehr zu finanzieren. Wir sehen immer öfter Menschen auf der Straße oder in Wohnungsnot, die mal bei Freunden, mal im Übergangswohnheim unterkommen oder auch im Auto oder Park schlafen.
Es gibt unter ihnen einen nicht unerheblichen Teil, die psychische Auffälligkeiten mit sich tragen. Sie halten es nicht aus, wenn nebenan noch jemand wohnt, haben Ängste, fühlen sich bedroht oder beobachtet und suchen deshalb die Unbehaustheit.
Wenn jüngere Erwachsene an härtere Drogen geraten, kann eine psychische Erkrankung die Folge sein. Wer aus dem Teufelskreis nicht herauskommt oder keine Hilfen hat, landet auf der Straße.

Da landen aber nicht nur Menschen mit psychischen Problemen …
Nein, natürlich nicht. Wir haben auch jene, die einen Beruf hatten, ins Ausland gingen und dort über viele Jahre gearbeitet haben. Dann geht etwas schief, sie kommen zurück, werden krank, haben hier aber keine Versicherungsbeiträge bezahlt. Oft landen auch sie in Obdachlosen-Einrichtungen oder auf der Straße.
Wir treffen auch Menschen, die wegen Verschuldung oder Schwarzfahren im Gefängnis gelandet sind. Dort wurde für sie gesorgt. Wenn sie dann entlassen sind, müssen sie erst alles anleiern, um wieder einen Versicherungsschutz zu haben. Die Zeit bis dahin muss mit ärztlicher Hilfe überbrückt werden, ohne dass eine Versicherung dies zahlt, bei einem insulinpflichtigen Diabetiker etwa oder wenn jemand Bluthochdruck hat.

Den typischen Wohnungslosen gibt es also nicht?
Früher hätte ich gesagt, ein wohnungsloser Mensch ist der, der von A nach B durch die Republik reist, keinen festen Job und kein Dach über dem Kopf hat und vermutlich noch dem Alkohol zuspricht.
Aber die Lage ist vielschichtiger geworden. Hier in Frankfurt sind viele Menschen in Wohnungsnot und auch obdachlos, die Migrationshintergrund haben. Im letzten Jahr waren bei uns in der Ambulanz knapp 30 Prozent Menschen mit deutschem Pass, die anderen kamen aus anderen Ländern, meist aus Osteuropa. Dabei sind die Geflüchteten gar nicht berücksichtigt, weil sie in der Regel eine Unterkunft bekommen. Aber auch unter denen mit Bleiberecht gibt es zunehmend mehr, die es nicht schaffen, auf den Arbeitsmarkt zu kommen, in finanzielle Nöte geraten und auch obdachlos werden.
Noch ist der Anteil der Frauen geringer als der von Männern. Das Durchschnittsalter ist in den letzten Jahren um etwa zehn Jahre gestiegen und liegt zwischen 40 und 50 Jahren. Wohnungslose sterben deutlich früher als „die Normalbevölkerung“; meist sind sie in den 60ern oder noch jünger.
Gewalt ist ein ständiger Begleiter von Menschen, die keine geschützte Umgebung haben.

Sie ziehen bewusst in die Großstadt, oder?
Ja, in der Hoffnung, dass es in den Ballungszentren noch eine Einkommensmöglichkeit gibt, dass es dort die Community gibt, der sie angehören – weitere Menschen aus Afrika, Bulgarien oder … Wohin sie ziehen, liegt auch daran, wie Kommunen auf Obdachlosigkeit und Wohnungsnot reagieren. Oft sehen wir da die Haltung: „Wir sollten es ihnen bloß nicht zu bequem machen, dann kommen ja noch mehr.“
In Frankfurt sind die Notübernachtungsstätten und Übergangsheime ständig belegt, auch im Sommer. Seit einigen Jahren hält man im Winter eine Notübernachtung als Schutz vor dem Erfrieren bereit: eine Zwischenebene in U-Bahn-Stationen, die nachts geöffnet ist. Aber das ist schon sehr basal. Während der Corona-Zeit wurde ihnen interessanterweise ein leerstehendes Hotel zur Verfügung gestellt, zur Quarantäne. Da ging es darum, die Gesellschaft zu schützen. Plötzlich ging etwas, was vorher nie möglich war. Jetzt müssen wir wieder darum kämpfen, dass mehr Plätze bereitgestellt werden.

Nur weil man keine Anreize schaffen will oder spielen auch Vorurteile mit?
Letztlich ist die Frage: Wer bezahlt? Die Elisabeth-Straßenambulanz etwa ist eine Einrichtung der Caritas. Sie bekommt einen Zuschuss von der Stadt, der aber lange nicht den Gesamthaushalt deckt. Gleichwohl wird gesagt: Wir sorgen doch dafür.
Für kranke und langzeitkranke wohnungslose Menschen gibt es längst nicht genügend Angebote. Meistens versterben sie auf der Straße, bevor man überhaupt eine ordentliche Versorgung geschaffen hat. Das ist bitter in unseren Breitengraden!
Aber nicht jeder, den wir draußen antreffen, würde ein Wohnungsangebot oder eine Übernachtungsmöglichkeit annehmen; aus vielschichtigen Gründen – im Einzelfall auch, „weil ich ein ganzes Leben lang schon so durchgekommen bin“. Aber das ist die Ausnahme.

Obdachlose sind vielen eher unangenehm oder ein wenig suspekt.
Ich denke, sie legen einen Finger in unsere gesellschaftliche Wunde. Manchmal spielt sicher auch der Gedanke mit: „Das könnte mir genauso passieren.“ Für beides hat der Mensch Abwehrmechanismen. Dann sagt man: „Die könnten ja, wenn sie wollten.“ Außerdem ist es unbequem, diese komplexen Zusammenhänge in den Blick zu nehmen.
Es gibt in unserer Gesellschaft aber Menschen, die durch alle Netze fallen. Sie sind nicht alle arbeitsunwillig. Im Gegenteil, sie suchen Jobs, damit sie versichert sind und sich eine Wohnung leisten können. Aber was bieten wir ihnen an? Es fehlt an Arbeitsmöglichkeit und gerechter Bezahlung, damit Wohnen möglich wird oder bleibt.

Sehen Sie Hoffnungsschimmer?
Hoffnung habe ich in dem Maße, wie es uns gelingt, auf das Thema aufmerksam zu machen.
Wenn Menschen sich interessieren, einmal herkommen oder einen Vortrag gehört haben, dann gehen sie mit einem anderen Blick durch die Stadt. Sie bringen ihre Kleidung in die Kleiderkammer, machen sich kundig, wo es Anlaufstellen gibt, und informieren sich über das Hilfenetz. Da besteht viel Offenheit.
Das macht mir Hoffnung, dass Veränderung möglich ist! Dass Menschen nicht auf der Straße sterben. Dass im Winter niemand erfriert. Dass Menschen ohne Wohnung genauso wertvoll und würdevoll sind wie du und ich. Und dass sich vielleicht eine Lobby bildet, die sagt: Nein, so einfach entlassen wir die Kommunen nicht aus der Pflicht.
Es braucht Langmut. Und ja, es kostet Entschiedenheit, in dieser Arbeit zu bleiben. Es kostet Kraft, um Rechte und Zugangswege zu kämpfen. Und es ist unendlich kostbar zu sehen, wie Menschen, von denen man es gar nicht erwartet hat, Schritte setzen können, Termine einhalten, Schulden abtragen, sich einbringen, wenn sie gefragt sind.
Vielen Dank für das anregende Gespräch!
Gabi Ballweg

Foto: (c) Cathia Hecker

Maria Goetzens,
Jahrgang 1959, ist Allgemeinmedizinerin und arbeitet seit 30 Jahren mit und für wohnungslose Menschen. Sie leitet die Elisabeth-Straßenambulanz des Caritasverbandes Frankfurt, die für medizinische, zahnmedizinische und psychiatrische Versorgung von Menschen ohne Wohnung oder auf der Flucht sorgt. Mit 24 Jahren trat Sr. Maria in die Ordensgemeinschaft der Missionsärztlichen Schwestern ein und lebt in einer Kommunität in Frankfurt/Main.



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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2023.
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