5. Dezember 2023

Zunächst mal eine Wohnung!

Von nst5

Julia von Lindern

Foto: Katharina Mayer / (c) Julia von Lindern

ist Geschäftsführerin des deutschen Bundesverbands Housing First e.V. „Housing First“ ist ein Ansatz, um Obdachlosigkeit zu überwinden. Während er in anderen Ländern schon seit Längerem erfolgreich umgesetzt wird, steckt er im deutschsprachigen Raum noch in den Kinderschuhen: Seit wenigen Jahren arbeiten Wien und mehrere Städte in Deutschland damit; in Basel gibt es ein Pilotprojekt.



Obdachlose Menschen leben aus sehr unterschiedlichen Gründen oft unversorgt auf der Straße und haben dann mit vielfältigen Problemen zu kämpfen. Diese Menschen hatte Sam Tsemberis im Blick, als er Ende der 1990er-Jahre in den USA „Pathways to Housing“ entwickelte und damit den konzeptionellen Ansatz von „Housing First“ grundlegte.
Housing First stellt – anders als viele andere Konzepte – das Wohnen an den Anfang der Hilfe. Die Menschen kommen von der Straße ohne Umwege in die eigene Wohnung. Mit vollem Mietrecht, allen Rechten und Pflichten. Ohne die Bedingung, Alkohol und Drogen zu entsagen oder eine Therapie zu machen. Haben sie ihre eigenen vier Wände angemietet, können sie wohnbegleitende Hilfen in Anspruch nehmen: etwa beim Umgang mit Behörden, die Vermittlung von Ärzten und Therapeuten. Alle Unterstützungsangebote basieren auf Freiwilligkeit. Werden sie nicht (mehr) genutzt, führt das nicht zur Kündigung der Wohnung. Grundhaltung des Housing First-Ansatzes ist die Überzeugung, dass Wohnen ein Menschenrecht ist und Menschen grundsätzlich in der Lage sind, es auszuüben. Und die Wissenschaft zeigt: Der Ansatz funktioniert. Bei konzepttreuer Umsetzung weisen die Programme in internationalen Studien eine sehr hohe Wohnstabilität auf: 80 bis 95 Prozent der Teilnehmenden leben auch nach fünf Jahren noch in ihrer eigenen Wohnung.
Housing First folgt acht Grundprinzipien. Dazu gehört, dass Wohnung und Hilfen personell und organisatorisch getrennt sind und die am Programm Teilnehmenden selbst bestimmen, welche Lebensbereiche sie verändern wollen. Die Prinzipien ermöglichen den zuvor zum Teil jahrzehntelang obdachlosen Menschen ein Leben in Würde, die Chance auf einen Neustart und auf Reintegration in die Mehrheitsgesellschaft. Eindrücklich und emotional berührend erklären Housing First-Mieterinnen und –Mieter in zahlreichen Artikeln oder Fernsehbeiträgen, wie sich ihr Leben mit der eigenen Wohnung zum Besseren verändert hat.
Diese Erfahrungen haben Politik und Verwaltung auf Housing First aufmerksam gemacht. Viele Städte – darunter Berlin, Bremen, Düsseldorf, Köln und Nürnberg – machen sich auf den Weg, Obdachlosigkeit mithilfe dieses Ansatzes dauerhaft zu überwinden. Auch auf nationaler Ebene ist einiges in Bewegung. Im November 2022 hat die deutsche Bundesregierung erklärt, die Obdachlosigkeit im Land bis 2030 überwinden zu wollen: ein anspruchsvolles Ziel! Neben einer Neuausrichtung der sozialarbeiterischen Herangehensweise in der Wohnungslosenhilfe braucht es auch deutliche Anstrengungen in der Wohnungspolitik. Es ist daher zu begrüßen, dass das Vorhaben im Ressort des Bundesbauministeriums liegt.
Im Herbst 2022 hat sich der Bundesverband Housing First gegründet. Ziel ist die Vernetzung bestehender sowie die Unterstützung und Beratung bei der Entwicklung neuer Housing First–Angebote. Seine Arbeit richtet sich sowohl an Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter als auch an interessierte Träger, Menschen aus Politik und Verwaltung.
Wir hoffen, dass es uns gemeinsam gelingt, die Obdachlosigkeit in einem der reichsten Länder der Erde Geschichte werden zu lassen.


Hat Ihnen der Artikel gefallen? Möchten Sie mehr von uns lesen? Dann können Sie hier das Magazin NEUE STADT abonnieren oder ein kostenloses Probe-Heft anfordern.
Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2023.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München.
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.