Selbstliebe ist nicht Selbstverliebtheit
Sich selbst lieben lernen, das klingt verdächtig.
Gerade für Christen. Geht es doch um Gottesliebe und Nächstenliebe. Oder?
Sie kennen vermutlich folgende Ansage im Flugzeug: „Sollte es zu einem Druckabfall in der Kabine kommen, öffnen sich automatisch Deckenklappen über Ihnen und Sauerstoffmasken fallen herunter. Ziehen Sie eine Maske zu sich heran und platzieren diese fest auf Mund und Nase. Danach helfen Sie Kindern und hilfsbedürftigen Personen.“
Haben auch Sie diesem „danach“ keine Bedeutung beigemessen? Mir jedenfalls ist es nie wirklich aufgefallen. Und damit sind wir schon mitten im Thema dieses Heftes: sich selbst lieben lernen. Es gibt offensichtlich Situationen, in denen es entscheidend sein kann, ob man in der Lage ist, auf sich selbst zu achten.
Sich selbst lieben lernen, das klingt verdächtig. Gerade für Christen. Geht es im Leben eines gläubigen Menschen doch um die Gottesliebe und die Nächstenliebe. Aber eher nicht um die Selbstliebe. Und selbst wenn: Muss man die überhaupt lernen? Ist die nicht ohnehin da – und zwar in übergroßem Maß?
Vielleicht ist es nicht ganz so einfach! Denn bei Licht betrachtet hat auch die Liebe zu sich selbst ihre Wurzeln in Gott. Auf den folgenden Seiten wollen wir dem nachspüren.
Bei der Arbeit an dieser Ausgabe habe ich mich an eine Fortbildung erinnert, an der ich vor einigen Jahren teilgenommen habe. Eine Aufgabe bestand darin, folgende fünf Aspekte des Lebens nach Wichtigkeit zu ordnen: Sinn, Schlaf, körperliche Bewegung, Arbeit, Beziehungen. Unsere Antworten fielen damals recht unterschiedlich aus, doch bei allen standen entweder Sinn, Arbeit oder Beziehungen ganz oben. Wir waren bass erstaunt als der Referent folgende Reihenfolge empfahl: Schlaf, körperliche Bewegung, Sinn, Beziehungen, Arbeit. Richtschnur sei, so meinte er, welcher Aspekt leide, wenn der vorherige nicht gegeben sei: Ohne genügend Schlaf ist körperliche Bewegung mühsam; ohne körperliche Fitness ist der Lebenssinn nur schwer zu verfolgen; kann man sich dem Sinn nicht widmen, wirkt sich das auf die Beziehungen aus, und stimmen die Beziehungen nicht, leidet die Arbeit. Natürlich lässt sich über diese Reihenfolge diskutieren, und sie ist nicht in jeder einzelnen Situation anwendbar. Sie macht aber deutlich, welche Bedeutung die Selbstfürsorge hat.
Selbstfürsorge ist ein wichtiger Begriff, um sich dem anzunähern, was Selbstliebe bedeutet: die eigenen Bedürfnisse kennen und wissen, dass die Verantwortung bei einem selbst liegt, dass sie in ausreichendem Maß erfüllt werden. Selbstverständlich ist es jederzeit möglich, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, weil sie etwa in Konkurrenz zu den Bedürfnissen anderer stehen. Aber das sollte eine eigene, freie Entscheidung sein.
Ein anderer wichtiger Begriff in diesem Zusammenhang ist Selbstwert: wissen, dass man – wie jeder andere Mensch auch – einen unschätzbaren Wert hat. Dieser Wert hat seinen Ursprung in der Menschenwürde und muss nicht erarbeitet werden. Christen wissen darüber hinaus, dass sie Töchter und Söhne Gottes sind – jede und jeder grenzenlos geliebt und von Jesus Christus befreit.
Ganz wesentlich meint Selbstliebe die Fähigkeit, in sich selbst genügend Liebe zu finden, um in eine Beziehung mit anderen Menschen treten zu können, ohne darauf angewiesen zu sein, von diesen zuvor Liebe bekommen zu haben.
Und so ist Selbstliebe eben nicht zu verwechseln mit den verschiedenen Spielarten des Egoismus wie Selbstbespiegelung, Selbstgenügsamkeit oder Selbstverliebtheit. Wenn ein Mensch beständig die Aufmerksamkeit, Bestätigung oder gar Bewunderung anderer braucht, zeugt das gerade nicht von einem Übermaß, sondern von einem Mangel an Selbstliebe, den andere Menschen dann ausgleichen sollen.
Hier nun drängt sich eine Frage geradezu auf: Ist es denn so leicht, genügend Liebe in sich selbst zu finden? Muss man es einfach nur wollen, und dann wird es schon? Die Antwort lautet leider: „Nein“. Nicht jeder Mensch hat die gleichen Ausgangsbedingungen, um sich selbst lieben zu können. Hängt diese Fähigkeit doch sehr davon ab, ob man (als Kind) genügend Liebe erfahren hat. Als Menschen bedürfen wir unser Leben lang auch der Zuneigung von außen, um uns selbst lieben zu können.
Es ist verflixt: Einerseits gilt, dass nur wer sich selbst liebt, auch andere lieben kann. Andererseits ist es so, dass wir uns selbst nur lieben können, wenn wir selbst Liebe erfahren haben. Was also kommt zuerst? Die Selbstliebe oder die Nächstenliebe?
Wie so oft, gibt es wohl keine eindeutige Antwort. Vielleicht aber hilft dieser Gedanke: Wer genügend Liebe in sich hat, der darf sie großzügig verschenken – insbesondere an diejenigen, die sich selbst nicht lieben können. Dann können sie – vielleicht – mit der Zeit die Liebe auch in sich selbst finden. Wem es hingegen an Liebe mangelt, der darf sich gerne lieben lassen. Auch das ist manchmal alles andere als einfach.
Leichter wird es da schon, wenn der dreifaltige Gott Teil des Ganzen sein darf. Er ist Liebe in sich selbst und deshalb gegenüber uns Menschen derjenige, der zuerst liebt. Jederzeit und bedingungslos. Wenn wir seine Liebe in uns aufnehmen und wirken lassen, dann kann sie auch auf die anderen überströmen.
Sich selbst zu lieben, das heißt auch, bei sich sein zu können, es mit sich selbst auszuhalten. Wahrlich kein Kinderspiel! Ein erster Schritt könnte sein, die Sorge um das eigene Wohlergehen als etwas Positives anzusehen. Ich habe es mir in den vergangenen Wochen ein paar Mal erlaubt, einfach auf dem Balkon zu sitzen, die Sonne zu genießen und vielleicht etwas zu lesen oder Musik zu hören. Für die Selbstfürsorge braucht es nicht immer viel Zeit: Mir ist aufgefallen, dass manchmal ein freundliches, zu mir selbst gesagtes „Guten Morgen, Peter!“ genügt, um anders in den Tag zu gehen.
Peter Forst
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Juli/August 2024.
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