13. Juni 2024

„Wir berühren Grenzen menschlicher Existenz.“

Von nst5

Viele Migrantenströme aus Nordafrika

und dem Nahen Osten führen nach Ägypten. Dort kümmert sich eine Stiftung der Fokolar-Bewegung vor allem um sudanesische Flüchtlinge, hilft, wo es geht, und versucht, ihnen Nähe und Wertschätzung zu zeigen.

Afrikanische Flüchtlinge in Kairo. – Alle Fotos: (c) Bernhard Rösch

Ägypten ist ein Land mit einer langen Geschichte und reichem kulturellen Erbe. Das im März geschlossene Migrationsabkommen mit der Europäischen Union zeigt aber auch, dass es eine wichtige Rolle für Flüchtlinge und Asylsuchende aus verschiedenen Teilen der Welt spielt. Nach Angaben der UN-Flüchtlingshilfe beherbergt das Land derzeit mehr als 560 000 registrierte Flüchtlinge und Asylsuchende aus 59 Ländern. Die große Mehrheit – 56 Prozent – stammt aus dem Sudan. Dort brachen am 15. April 2023 Kämpfe zwischen Regierungstruppen und paramilitärischen Kämpfern aus. Sie betreffen sowohl die Hauptstadt Khartum wie auch andere Regionen im Land. Wichtige Infrastruktur wie Krankenhäuser und Schulen wurde dabei angegriffen und zerstört. In weiten Landesteilen fehlt der Zugang zu Nahrungsmitteln und Medikamenten. Die Gewalt richtet sich teilweise gegen bestimmte ethnische Gruppen und häufig gegen Frauen. So sind seit Ausbruch der Kämpfe fast 8,2 Millionen Sudanesen innerhalb und außerhalb des Landes auf der Flucht. Nicht zuletzt wegen derselben Sprache kommen viele von ihnen nach Ägypten.

Bernhard Rösch mit der kleinen Fufu, ihrer Mutter und Großmutter. Das Mädchen hat drei Brüder; ihr Vater ist im Sudan gefallen.

Dort zieht es sie meist in die Hauptstadt Kairo mit über 20 Millionen Einwohnern. Seit sechs Jahren ist Bernhard Rösch einer von ihnen. Der Deutsche lebt in einer Fokolar-Gemeinschaft und arbeitet für die „United World Foundation“, eine soziale Stiftung, die 2007 von der Fokolar-Bewegung in Ägypten gegründet und von der Regierung anerkannt wurde. Das eröffnet ihr die rechtlichen Freiräume, sich offiziell für benachteiligte Menschen einzusetzen.
Im Jahr 2017 erhielt die Stiftung eine Anfrage von den Comboni-Missionaren, die in Kairo drei Zentren für Geflüchtete aus dem Sudan unterhalten. Zur gleichen Zeit traf Bernhard Rösch in der ägyptischen Hauptstadt ein und begann 2018 für die Stiftung zu arbeiten. „In Ägypten gibt es keine Flüchtlingslager“, erklärt er. „Die Menschen kommen bei Verwandten oder Mitgliedern der gleichen Ethnie unter. Zwölf bis 15 Personen in einer Wohnung sind dann keine Seltenheit.“

In Kairo auf Wohnungssuche

Bernhard Rösch geht zusammen mit freiwilligen Helfern zu den neu angekommenen Familien oder ist vor Ort, wenn sie gerade eintreffen. Dann verbinden sie blutende Füße von Kindern, helfen in einem Klassenzimmer bei der Erstversorgung, sorgen für frische Kleidung und den Transport zum Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). Dort bekommen die Geflüchteten ein Dokument, das sie als Asylsuchende ausweist. Damit ist vorerst ein legaler Aufenthalt in Ägypten möglich.
„Oft haben die Menschen Brandverletzungen und nicht verheilte Knochenbrüche. Bei Kleinkindern sind Atemwegserkrankungen besonders häufig. Ausschläge am ganzen Körper sind eine Reaktion auf verseuchtes Wasser, das sie auf der Flucht getrunken haben, und meist sind sie unterernährt.“ Dann sorgen die Helferinnen und Helfer für die notwendige medizinische Behandlung, begleiten die Menschen ins Krankenhaus und sorgen – soweit möglich – für die Übernahme der Kosten. „Mit unserer Arbeit berühren wir Grenzen menschlicher Existenz“, fasst Rösch zusammen. „Wir erleben Menschen, denen es an allem fehlt, und die es dennoch schaffen, irgendwie zu überleben.“
So bald wie möglich suchen die Neuankömmlinge eine eigene Unterkunft. Auch weil die Hausbesitzer darauf drängen, dass ihre Wohnung von nicht mehr als einer Familie bewohnt wird. Das neue Zuhause ist aber meist völlig leer und in erbärmlichem Zustand. Es fehlt an allem: So hat Bernhard Rösch mit seinen Helfern allein in den Monaten November und Dezember 750 Decken und leichte Matratzen gekauft und verteilt. Ebenso 120 Dosen Milchpulver und unzählige Lebensmittelpakete. „Eine Familie hatte nach der Flucht keine Schuhe mehr. Sie trauten sich nicht auf die Straße. Als wir das bei einem Besuch bemerkten, kauften wir neun Paar Badelatschen und die Familie atmete auf. Nun können sie am Leben teilnehmen.“

Beim Einkauf von Matratzen

Die Menschen aus dem Sudan leben in Ägypten in einer Parallelgesellschaft. Sie werden geduldet, sind aber nicht gewollt. Arbeit finden sie nur im informellen Bereich, Frauen als Haushaltshilfen und Putzfrauen, Männer als Lastenträger, an Tankstellen, und jüngere auch in Restaurants. Berührungspunkte mit anderen Schichten der Gesellschaft gibt es faktisch keine.
In den Freundeskreisen der Fokolar-Bewegung berichtet Bernhard Rösch regelmäßig über seine Arbeit und erlebt, dass sich mehr und mehr Menschen dafür interessieren. Die Jugendlichen organisieren Ausflüge, andere sammeln Kleidung, stellen Tische, Stühle und Matratzen zur Verfügung, helfen mit Geldbeträgen und sind mit dabei, wenn etwas an die Flüchtlingsfamilien verteilt wird. Für die ägyptischen Jugendlichen ist es oft ihr erster Kontakt mit Menschen aus dem Sudan. So auch für Sara, die auf eine solche Aktion hin dann auch ihre Pfadfindergruppe eingebunden, Kleidung gesammelt und einen Spieletag für sudanesische Kinder organisiert hat.

Besorgungen: Gaskocher und Möbel für eine Familie

Inzwischen erlebt Bernhard Rösch in Kairo eine Welle der Solidarität mit den Geflüchteten, die es vorher nicht gab. Das liege aber nicht nur an seinen Berichten, sondern auch daran, dass Menschen aus dem Sudan auf den Straßen in Kairo vermehrt sichtbar sind. Immer öfter stellen Menschen Teppiche, Gaskocher, Ventilatoren, Decken und vieles mehr zur Verfügung. Dann gilt es für den Brückenbauer Rösch den Transport und die Verteilung zu organisieren. „Und wenn jemand anbietet, mitzukommen, lehne ich das nie ab. Denn wer einmal dabei war, kommt wieder.“
In den vergangenen zwölf Monaten haben allein die Comboni-Missionare in Kairo etwa 4000 neue Familien aus dem Sudan registriert. Ähnliche Hilfe leisten auch die Franziskaner, die Salesianer, andere kirchliche Gemeinschaften und muslimische Zentren. Bei all der Not ist es Bernhard Rösch ein großes Anliegen, nichts allein zu entscheiden, sondern sich immer mit den Kontaktpersonen und dem Ansprechpartner der Ordensgemeinschaft abzusprechen. Letztlich ist das auch eine Art Schutz für ihn selbst; denn auf alle Anfragen einzugehen wäre schlicht unmöglich.

2023 konnte die Stiftung 40 Kindern den Schulbesuch ermöglichen.

Besonders am Herzen liegt der Stiftung, den Menschen und vor allem den Kindern und Jugendlichen eine Perspektive zu eröffnen. So konnten sie im letzten Jahr 40 Kindern den Schulbesuch ermöglichen, indem sie einen Teil der Schulgebühren übernahmen. „Aber“, so unterstreicht Rösch, „helfen können wir immer nur in dem Maße, wie Mittel vorhanden sind.“
Die Arbeit mit den Geflüchteten ist und bleibt auch nach diesen Jahren und trotz aller Erfahrung eine große Herausforderung: „Ich habe den Eindruck, dass es mit der Zeit sogar schwieriger wird. Weil man immer tiefer mit den Lebensumständen dieser Menschen und ihren Nöten vertraut wird. Häufig frage ich mich, wenn wir ein Haus betreten: ‚Bist du bereit für das, was du gleich siehst?’“ Andererseits erlebe er mit seinen Helfern aber auch immer wieder staunend, dass Türen sich öffnen und die notwendigen Mittel immer dann eintreffen, wenn sie sie brauchen. „Das ist eine Erfahrung, die uns unglaublich ermutigt in unserem Tun. Es sind kleine Hilfen, die wir geben. Aber wir wollen den Menschen zeigen, dass wir sie schätzen und achten. Wir hoffen, dass sie so nach und nach die ihnen geraubte Würde wiederfinden.“

United World Foundation
Die Stiftung wurde von der Fokolar-Bewegung in Ägypten gegründet, um sich für benachteiligte Menschen einzusetzen. Aktuell hat sie fünf Angestellte, eine davon in Vollzeit, die von 30 freiwilligen Helferinnen und Helfer unterstützt werden. Seit 2007 gibt es regelmäßige Aktivitäten für muslimische Kinder und Frauen in einem sozial benachteiligten Bezirk in Kairo. Seit 2018 engagiert sich die Stiftung in Abstimmung mit den Comboni-Missionaren für Geflüchtete aus dem Sudan, Süd-Sudan und Eritrea. Die Stiftung finanziert sich durch Spenden. refugeesudan.com


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2024.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München.
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