4. Dezember 2024

Erschrocken und ratlos

Von nst5

Die Wahlergebnisse im Osten Deutschlands waren nicht überraschend

und sollten doch nicht einfach so hingenommen werden. Hintergründe und Ansätze dafür, was jetzt zu tun ist.

Überraschend waren die Wahlergebnisse nicht: Die große Zustimmung für Parteien wie die Alternative für Deutschland und das Bündnis Sahra Wagenknecht, die vom rechten und linken Rand mit schlichten Parolen wie „Abschieben!“ und „Gegen Klimadiktatur“ werben, hatte sich abgezeichnet. In der Mitte der Gesellschaft habe ich selten so große Ratlosigkeit wahrgenommen, nicht nur unter Politikern. Ein Bischof, der vor der Europawahl im Sommer noch eindringlich dafür geworben hatte, die Wahlprogramme auf menschenverachtende Inhalte zu überprüfen, erwog vor den Landtagswahlen, lieber zu schweigen: „Je mehr ich sage, desto schlimmer scheint es zu werden.“
Wie kann man Parteien nach vorn bringen, die das demokratische System in Deutschland mittragen? Was treibt so viele dazu, Parteien zu wählen, deren Forderungen dermaßen diffus und widersprüchlich sind? Warum überzeugt ein Politiker wie Björn Höcke, der wiederholt den Holocaust verharmlost hat, sogar Christen? Die Fragen standen im Raum.
Manche der Parteien, die lange die Landesregierungen stellten, versuchten, die Lage auf eine einfache Formel zu bringen: Die ostdeutsche Bevölkerung will Zuwanderung begrenzen. Entsprechend plakativ sahen Lösungsvorschläge aus: mehr Flüchtlinge abschieben oder bereits an den Grenzen abwehren. Zum Durchbruch verhalf das keiner dieser Parteien. Ein Effekt war hingegen, dass Zuwanderer und Alteingesessene, die man für Zuwanderer hält, noch mehr als zuvor über Ausgrenzung, fremdenfeindliche Pöbeleien und Angriffe klagen.

KOMPLEXE STIMMUNGSLAGE
Es darf nicht kleingeredet werden, dass sich eine so hohe Zahl Ostdeutscher hinter Parteien sammelt, die Demokratie in Frage stellen. Dass dafür nicht zuerst die Politiker verantwortlich sind, die Fehler gemacht haben, sollte deutlicher gesagt werden. Die Wählerinnen und Wähler, die extreme Parteien gewählt haben, tragen Verantwortung.
Was könnte die Demokratie in den ostdeutschen Ländern jetzt stärken? Ich wünsche mir, dass man auf vielen Ebenen erst einmal innehält. Noch viel zu selten gibt es zwischen Ost und West Gespräche über Verletzungen und Schieflagen, die während und nach der Wiedervereinigung entstanden. Der westliche Blick auf den Osten des Landes ist oft überheblich, verbunden mit dem erleichterten Seufzer „Gut, dass bei uns alles besser läuft!“
Wer Menschen hier zuhört, findet keine einfachen Erklärungen für die Wahlergebnisse. Er bekommt aber eine Ahnung davon, wie komplex die Stimmungslage ist.
Eine bis heute nachwirkende Erfahrung ist die aus nachvollziehbaren Gründen sehr eilig vollzogene Vereinigung. Es fehlte die Zeit, nach dem Guten zu fragen, das DDR-Bürger einzubringen hätten. Auf vielen Gebieten wurden der Einfachheit halber westdeutsche Systeme übernommen. Nicht immer waren die besser. Das frustriert manchen hier bis heute und schwächt das Vertrauen in die Demokratie.

Illustration: stockdevil, Issarajarukitjaroon (iStock)

Gerade in ländlichen Gebieten wirken auch die Zwangskollektivierungen der DDR noch nach. Eine ganze Generation hatte wenig Gelegenheit, Eigeninitiative zu ergreifen, Verantwortung für den eigenen Ort zu übernehmen, die eigene Meinung einzubringen. Damit fehlte auch die Erfahrung, mühselig um die beste Lösung ringen und Mehrheiten finden zu müssen und dabei Rückschläge zu verkraften.
Die fürsorgliche Väterlichkeit, mit der manche führenden Politiker hier in den 1990er-Jahren ihr Amt ausfüllten, brachte zwar Wählerstimmen, nährte aber auch eine unerfüllbare Erwartungshaltung. „Wir kümmern uns um eure Probleme“, versprachen sie. Hätten sie nicht sagen können: „Wir stellen die Weichen, damit ihr (mit uns gemeinsam) eure Probleme lösen könnt!“?
Schon damals blühte mancherorts in Ostdeutschland eine Neonazi-Szene auf, es kam zu fremdenfeindlich motivierten Verbrechen. Bürgermeister und Landräte bremsten die Aufklärung und Aufarbeitung oft aus. Sie fürchteten, dass wirtschaftlich bedeutende Investoren und Touristen ihre Region meiden könnten, wenn sie mit Rechtsextremismus in Verbindung gebracht würde. Indes konnten Neonazis sich weiter ausbreiten. Gerade in dünn besiedelten Landstrichen waren sie oft die einzigen, die Freizeitangebote für Jugendliche schufen – und dabei ihre Ideologie verbreiteten.

ABGEWÜRGTE GESPRÄCHE
Der Wandel der Informationswege trägt gerade in solchen Regionen seit Jahren zum wachsenden Erfolg schlichter Heilsversprechen und zur Verschärfung von Fronten bei. Ob Fakten in einem Social-Media-Beitrag der Wahrheit entsprechen und aus welcher Quelle eine Nachricht stammt, interessiert eine erschreckend große Zahl von Nutzern kaum mehr. Im gleichen Tempo hat sich die Diskussionskultur verändert. Wer sich kritisch zu gesellschaftlichen Entwicklungen äußert, wird häufig abgewürgt. Probleme bei der Integration von Flüchtlingen waren zu selten Thema öffentlicher Debatten. Linke Politiker neigten dazu, diejenigen als Rechts abzustempeln, die entsprechende Diskussionen eröffnen wollten, und auch konservative Politiker zierten sich, um nicht in die rechtsextreme Ecke gestellt zu werden. Manche Anläufe, Integration zu verbessern und zu beschleunigen, verebbten. Mit einer Reihe anderer Themen lief es ähnlich. Klagen über einen schärfer gewordenen Umgangston höre ich in Ostdeutschland fast täglich. Allzu schnell werden kontroverse Gespräche abgebrochen, man redet dann nur noch übereinander, stempelt ab, wertet ab, beleidigt. „Wir gehören zusammen, auch wenn wir verschiedener Meinung sind.“ Diese Haltung ist nicht mehr selbstverständlich, auch unter Christen nicht.
Da stehen wir jetzt mit all diesen Entwicklungen und einem Wahlergebnis, das die Politiker zwingt, neue Wege einzuschlagen. In keinem der drei neu gewählten Landesparlamente kann sich irgendetwas bewegen, wenn nicht auch die miteinander reden, deren Positionen unvereinbar scheinen. Wenn es gut geht, könnte sich daraus eine neue politische Kultur entwickeln. Das Wort Demut führten Parteien der Mitte nach den Wahlen immer wieder im Mund. Es könne nicht mehr Vorrang haben, seine Parteiziele durchzubringen. Wichtig sei allein, das Bestmögliche für das Land zu erreichen.
Beispielhaft vorgelebt hat das Adeline Abimnwi Awemo, Brandenburger CDU-Kandidatin. Die Haltung dieser Christin hat über die Grenzen ihrer Partei hinaus viele beeindruckt, auch wenn sie den Sprung in den Landtag verpasste. Die in Tansania geborene Politikerin setzt sich in Cottbus seit Jahren für Zusammenhalt ein. Sie ging vor den Wahlen von Haus zu Haus und sprach mit jedem, der dazu bereit war. Auch AfD-Sympathisanten hat sie gut zugehört und dann sehr abgewogen reagiert: „In dem Punkt verstehe ich Sie, diese Position finde ich hingegen gefährlich … “ Beim Kleben von Wahlplakaten wurde Adeline Awemo von einer Fremden heftig geschlagen und rassistisch beleidigt. Trotz des Schrecks habe sie nie daran gedacht, die Kandidatur zurückzuziehen, sagte sie später. Sie wolle sich nicht in eine Opferrolle zurückziehen und glaube an den guten Kern in jedem Menschen. Sie betont: „Ich möchte weiterhin danach suchen, was wir gemeinsam zum Guten bewegen können.“ Menschen wie sie braucht es jetzt.
Dorothee Wanzek

Dorothee Wanzek (*1967 in Hannover) leitet seit Anfang 2022 die Redaktion der katholischen Kirchenzeitung der ostdeutschen Diözesen, Tag des Herrn. Seit den 1990er-Jahren lebt sie mit ihrer Familie in Zwochau bei Leipzig.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2024.
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