4. Dezember 2024

Ausgehen von der Würde

Von nst5

Wir wünschen uns mehr Respekt.

Aber was verstehen wir darunter? Was hinter Respektlosigkeit stecken und wie sich Respekt zeigen kann.

Sprache hat eine stärkere Wirkung, als wir annehmen. Die Worte, die wir verwenden, lösen Bilder in den Köpfen der Zuhörer aus. Und diese Bilder beeinflussen das Verhalten. Die Wiener Schriftstellerin und Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Schrattenholzer hat das in der Zeitung „Der Standard“ verdeutlicht: Wenn sie als Lehrerin eine Klasse übermütiger Zehnjähriger ermahnte: „Benehmt euch doch nicht wie im Kindergarten!“, trieben es die Kinder noch wilder als zuvor. Forderte sie die Jungen und Mädchen hingegen auf: „Benehmt euch doch bitte wie Erwachsene!“, versuchten einige sofort, Erwachsene nachzuahmen.
Hass, Diskriminierung und Gewalt dürfen nicht verschwiegen werden; sie gehören angeprangert. Aber das Sprechen und Schreiben darüber kann auch Nachahmer auf den Plan rufen. Daher müssen wir darüber nachdenken, WIE wir über Missstände sprechen und eine Sprache finden, die das erreicht, wonach wir uns sehnen: ein friedlicheres, respektvolleres Zusammenleben. Der Artikel von Elisabeth Schrattenholzer trug die Überschrift: „Warum wir mehr über Respekt als über Gewalt reden sollten“. Dazu wollen wir in diesem Heft einladen.
Mit Respekt verbinden wir womöglich unterschiedliche Einstellungen und Verhaltensweisen. Gegenüber Machtmenschen und Autoritäten hält man im Allgemeinen lieber einen gewissen Abstand. Sie können Angst einflößen, daher hat man Hochachtung. Diese Form von Respekt steht bei uns jedoch nicht im Vordergrund!
Bei den letzten Paralympics haben wir Menschen erlebt, die mit ihrer Behinderung zu sportlichen Leistungen fähig sind, die mich staunen lassen. Auf ähnliche Weise bewundere ich Zirkusartisten oder Mathe-Asse. Diese Art Respekt geht in die Richtung, die uns interessiert. Sie ist jedoch an eine außerordentliche Leistung oder Fähigkeit gebunden.

Bilder: (c) johnwoodcock (iStock)

Den Respekt, über den wir vor allem sprechen wollen, ist der „unverdiente“, der ohne Bedingungen jeder Person gebührt: allein, weil sie Mensch ist! Jeder Mensch ist einzigartig und hat eine Würde. Unabhängig von Alter, Geschlecht, Nationalität, Religion, Wohlstand, sozialem Stand, Gesundheit… Dieser Respekt „umfasst die Achtung vor dem, was den Kern jedes Menschen ausmacht”, definiert der Rechts- und Gesellschaftsphilosoph David Manolo Sailer in einem Artikel für „Die Presse“. Respekt erkenne das Anderssein des Gegenübers an und lasse es gelten.
Was wir jedoch oft erleben, sind Zwietracht und Abgrenzung, die die Gesellschaft auseinandertreiben. Dieses Denken und Verhalten, die „emotionale Polarisierung“, befriedigt allerdings auch ein psychologisches Bedürfnis der Menschen. Darauf weist Christoph Stadtfeld, Professor für Soziale Netzwerke, in einem gemeinsamen Internet-Gespräch der ETH Zürich mit Nadia Mazouz, Professorin für praktische Philosophie, hin: „Wir wollen uns einer Gruppe zugehörig fühlen und teilen die Welt in ‚die anderen’ und ‚wir’ ein.“ Wir seien uns immer weniger einig über die grundlegenden Bedingungen unseres Zusammenlebens, sagen die beiden Wissenschaftler. Gewisse Akteure hätten Interesse an einer Spaltung – Parteien an den Rändern des politischen Spektrums beispielsweise – und wollten den gegenseitigen Respekt untergraben. Demokratie setze aber voraus, dass wir uns als Freie und Gleiche sehen und nicht als Feinde. Und: Wenn der Respekt vor jeder Person, vor den demokratischen Institutionen und vor der Wahrheit fehle, sei die Demokratie gefährdet, befürchtet auch David Manolo Sailer.
Was kann man gegen die zunehmende Polarisierung – und damit für ein respektvolleres Miteinander – tun? Christoph Stadtfeld schlägt vor, Möglichkeiten zu schaffen, um über Gruppengrenzen hinweg Beziehungen zu bilden. „Ich denke hier zum Beispiel an eine Bildungs- und Wohnungspolitik, die auf Durchmischung setzt, oder an Sportvereine, die ganz unterschiedliche Menschen zusammen und ins Gespräch bringen.”
Ähnlich wie unser Interviewpartner Tim Niedernolte rät er dazu, ohne Berührungsängste und neugierig durch die Welt zu gehen: „Oft merken wir erst, wenn wir ins Gespräch kommen, dass wir mehr mit Andersdenkenden teilen, als wir vermuten würden. Wir brauchen auch eine dickere Haut und sollten uns nicht gleich über alles empören, das nicht unserer Meinung entspricht.” Nadia Mazouz meint, uns stünde zudem mehr Selbstkritik gut: „Als kosmopolitisch Denkende betonen wir gerne, dass wir andere Meinungen und Diversität tolerieren. Doch gleichzeitig beobachte ich die Tendenz, die angeblich Intoleranten zu verachten. Damit tragen wir selbst zur emotionalen Polarisierung bei.”

Polizisten werden angepöbelt, Schüler gemobbt, Krankenschwestern in Arztpraxen und Pflegepersonal in Seniorenheimen beschimpft, Kindergärtnerinnen und Lehrkräfte von Eltern angegiftet. Sogar Notärzte werden daran gehindert, Leben zu retten, oder gar angegriffen. Hinter solchem Verhalten steckt oft Frust aufgrund von Enttäuschungen, Demütigungen, eigenen Fehlern oder Fehlern anderer. Manche Menschen übertragen ihren Ärger, den sie durch das Verhalten Einzelner erleben, auf ganze Personengruppen. Minderwertigkeitsgefühle und ein Mangel an Selbstrespekt können dafür eine Ursache sein. Denn der Mensch hat das Bedürfnis, anderen gegenüber gleichberechtigt zu sein. Wird ihm das nicht durch den Respekt anderer vermittelt, „kann es schwerfallen, Selbstrespekt zu entwickeln“, schreibt die Kieler Sozialpsychologin Daniela Renger. Dann falle es deutlich schwerer, seinen Platz im Leben zu finden. Die Verinnerlichung von Gleichberechtigung helfe dagegen, nicht nur eigene Rechte zu schützen, sondern auch die der anderen mitzudenken. Menschen mit hohem Selbstrespekt haben laut Renger eine positive Einstellung zu Menschenrechten, entwickeln Toleranz gegenüber Andersdenkenden und zeigen mehr soziale Verantwortung.
Nicht nur unsere Sprache wirkt auf unsere Mitmenschen, sondern auch unsere innere Einstellung und unser Verhalten. Mir klar zu werden, wie ich behandelt werden möchte, kann daher eine gute Leitschnur für ein respektvolles Sprechen und Handeln sein.
Clemens Behr


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2024.
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