Unverkrampft
Offener Brief an Sheetal Devi, indische Para-Bogenschützin
Sehr geehrte Frau Devi!
Wenn Menschen, die keine Beine haben, Gewichte stemmen; mit nur einem Bein Hochsprung machen; ohne Arme zu haben, schwimmen; im Rollstuhl sitzend Basketball oder Tennis spielen; blind Fußball spielen oder mithilfe einer Begleitung um die Wette sprinten: dann staune ich, was diese Frauen und Männer alles erreichen. Bei den Paralympics in Paris konnten wir erleben, was Menschen mit körperlichen Behinderungen leisten können.
Auch Sie, Frau Devi, waren dabei. Mit nur 17 Jahren! Sie haben Menschen auf der ganzen Welt damit begeistert, wie Sie ruhig und konzentriert Pfeil um Pfeil auf die fünfzig Meter entfernte Zielscheibe geschossen – und eine der höchsten Punktzahlen erreicht haben! Zuvor hatte ich nicht geahnt, dass Bogenschießen, ohne Arme einsetzen zu können, überhaupt möglich ist. Und Sie sind in nur wenigen Jahren eine der besten Bogenschützinnen der Welt geworden!
Mit den Zehen vom rechten Fuß greifen Sie die Pfeile und hängen sie in die Sehne des Bogens ein. Sie spannen den Bogen, indem Sie den Fuß dagegenstemmen und den Oberkörper zurücklehnen. Um Ihre rechte Schulter hängt ein Gurt mit einer Vorrichtung, die den Pfeil an der Sehne hält und durch die Sie ihn mit einer kleinen Bewegung des Kinns abfeuern können. Das Bogenschießen hat Ihnen eine neue Welt eröffnet und Sie bis nach Paris gebracht!
Sie kommen vom Land. Ihr Vater arbeitet auf dem Feld, Ihre Mutter hütet Schafe. Zuerst dachten Sie, Sie könnten nicht die Schule besuchen, weil Sie ohne Arme geboren wurden. „Aber niemand hat mich spüren lassen, dass ich anders bin“, erzählen Sie in einem Video. Nach der Schule haben Sie mit ihren Freundinnen gespielt. „Wir sind auf Berge gestiegen und auf Bäume geklettert.“ Als Sie das erste Mal auf einen Baum stiegen, waren die Menschen entsetzt. Alle hatten Angst, dass Sie herunterfallen. „Nur ich nicht.“
Sie sind in einem Umfeld aufgewachsen, in dem Sie sein konnten, wie Sie sind. Sie haben Menschen gefunden, die an Sie geglaubt haben. Und Sie haben hart trainiert, um körperliche Fitness und Treffsicherheit zu verbessern: ein langer Weg!
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Paralympics wurden aufgrund ihrer Leistungen bewundert. Wie viele Menschen mit einer Behinderung bleiben unbeachtet, ausgegrenzt, können an vielem nicht teilnehmen und sich nicht bewegen, wie sie möchten! Erlangt man als Mensch mit Behinderung in unserer Gesellschaft erst Aufmerksamkeit, wenn man Außergewöhnliches schafft?
Frankreich hat die Paralympics genauso behandelt wie die Olympischen Sommerspiele in den Wochen zuvor. Und hat damit Zeichen gesetzt, weil das Mitbedenken und Mithineinnehmen von Menschen mit Behinderung eben oft nicht selbstverständlich ist. Ich erwische mich selbst dabei, Menschen mit Behinderungen auszuweichen. Aus Unsicherheit. Aus Angst, etwas falsch zu machen und sie zu verletzen. Dabei ist es genau das, was sie schmerzt: nicht behandelt zu werden wie alle Menschen. Meine Unsicherheit ist unnötig und behindert mich, eine freie, unmittelbare, normale Beziehung mit ihnen zu leben. Das nehme ich mir von den Paralympics und von Sportlern und Sportlerinnen wie Ihnen mit großer Dankbarkeit mit!
Mit freundlichen Grüßen
Clemens Behr,
Redaktion NEUE STADT
Sheetal Devi
ist eine indische Para-Bogenschützin. Bei den Paralympics im August in Paris erreichte sie mit ihrem Teamkollegen Rakesh Kumar die Bronzemedaille im Mixed-Doppel. Die 17-Jährige wuchs in einer Kleinbauern-Familie in einem Dorf im nordindischen Bundesstaat „Jammu and Kashmir“ auf. Aufgrund der seltenen Krankheit Phokomelie kam sie ohne Arme zur Welt. x.com/ArcherSheetal
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2024.
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