WORT DES LEBENS – PLUS
Mit vier Augen
„Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon sprießt es, merkt ihr es nicht?” (Jesaja 43,19)
Neues? Als Schulseelsorger habe ich erlebt, dass selbst Jugendliche am Alt-Hergebrachten hängen. Dass es unter Kirchgängern große Diskussionen um die Verschiebung von Gottesdienstzeiten gibt, ist jedem Pfarrer bekannt. Dabei beten Gläubige an Pfingsten doch: „Herr, mache alles neu!“ Von Albert Einstein stammt die Aussage: „Die reinste Form des Wahnsinns ist, alles beim Alten zu belassen, und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.“
Veränderung kostet. Sie braucht Vertrauen, Aufbruch und Energie. Diesen Preis zahlen viele Menschen nicht gern. Es scheint einfacher, die Schieflage zur Normalität zu deklarieren. Der US-amerikanische Musiker Frank Zappa meinte einmal: „Die Menschen lieben es, sich selbst zu täuschen, weil die Wahrheit zu schmerzhaft ist.“
Der Prophet Jesaja lässt Gott zu Wort kommen, und wir lernen daraus, dass Gott selbst immer neu ist, dass er selbst nicht statisch ist, sondern ganz lebendig Gott ist; ein Gott, der Neues schafft, also nicht nur „damals“, sondern heute als Schöpfer handelt.
„Ich mache etwas oder alles neu.“ Für manche ist genau das neu: dass Gott immer neu ist und uns das Neue zumutet, damit wir lebendig bleiben. Oft merken wir den Sinn erst im Nachhinein. So habe ich etwa erst nach vielen Jahren erkannt, dass der frühe Tod unseres Vaters kein Un-Sinn des Schicksals war. Wir waren damals tief erschüttert, doch so herausgefordert konnten wir später neue Wege entdecken.
Merken wir es nicht? Ich durfte ein Jahr einen Kranken auf dem Heilungsweg begleiten und musste dem Klagenden immer wieder sagen: „Du machst Fortschritte, merkst du es nicht?“ Tatsächlich habe ich seine Entwicklung besser erkannt als er selbst. Ich habe daraus gelernt, dass es zum „Merken“ nicht zwei, sondern mindestens vier Augen braucht, also ein gemeinsames Sehen und Deuten. Das gilt für unseren Blick auf andere oder auch auf die Weltgeschichte.
Wir nehmen heutzutage einen gewaltigen Umbruch wahr. Wir empfinden Angst vor der Zukunft. Es geschehen schmerzliche Prozesse im Kleinen und Großen. Da liegt bei manchen die Deutung nahe, dass es Gott nicht gibt oder dass er all dies doch nicht zulassen kann. Manche verabschieden sich auch von ihrem bisherigen Glauben.
In einer solchen Umbruchsituation hat schon zu seiner Zeit der Prophet eingeladen, an den Gott zu glauben, der Neues schafft. Er lädt ein, zusammenzukommen, um miteinander das Neue zu merken. Ich könnte nicht Seelsorger sein, wenn ich dieses Miteinander nicht im täglichen Leben unter Menschen suchen und erfahren würde. Ich muss auch noch mit 69 Jahren lernen, wie Sehen und Hören geht, um das Neue von Gott erkennen zu können.
Wolfgang Schneck
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, März/April 2025.
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