3. Juni 2025

Sich dem Dunkel stellen

Von nst5

Weil die eigene Familiengeschichte ihr keine Ruhe ließ,

setzt sich Cornelia Stieler 80 Jahre nach Kriegsende für Versöhnung ein.

Foto: (c) Kirsten Seyfarth

Am 19. Januar 2025 wird auf dem Friedhof in Bojków ein Denkmal eingeweiht. Es erinnert an KZ-Häftlinge, die vor 80 Jahren auf einem der sogenannten Todesmärsche vom 55 Kilometer entfernten Auschwitz durch den schlesischen Ort getrieben worden waren – Schönwald hieß der heutige Stadtteil von Gliwice (Gleiwitz) in Polen damals. Bei der Gedenkveranstaltung ist auch Cornelia Stieler aus Sachsen dabei. Ihre Vorfahren stammen aus Schönwald; die Mutter hatte ihr oft von ihrer Kindheit in Schlesien erzählt und sie hatte sich den Ort demnach als Idylle vorgestellt. Wie nahe er am Konzentrationslager Auschwitz lag, ist ihr erst aufgefallen, als sie schon erwachsen war. Dass darüber nicht gesprochen wurde, hat sie gewundert. Noch dazu als sie erfuhr, dass auf dem Todesmarsch mehrere Häftlinge im Dorf erschossen worden waren.
Auf der Suche nach Klarheit stieß Cornelia Stieler auf Widerstände. Die Familientherapeutin weiß jedoch, dass es heilsam ist, sich mit den schönen, aber auch mit den belastenden Erfahrungen auseinanderzusetzen, die in der eigenen Familie oder Gemeinschaft prägend waren. Unter den Teppich Gekehrtes beeinträchtige die Lebenskraft von Menschen oft noch über mehrere Generationen. Deshalb gründete sie mit anderen Nachfahren ehemaliger Bewohner vor acht Jahren den Verein „Schönwalds Erben“; er soll Geschichte und Kultur des Ortes ins Licht rücken. Aber der Vereinsvorsitzenden geht es um mehr: „Wer sich entscheidet, ein Erbe anzutreten, der muss auch die lästigen Erbstücke übernehmen“, sagt sie.

Cornelia Stieler. – Foto: (c) Matthias Wehnert

Die Suche nach Zeitzeugen, die ihr Schweigen brechen und von den Geschehnissen der Kriegsjahre berichten, war mühsam. „Es braucht oft lange, bis Menschen traumatische Erlebnisse ihrer Familie an sich heranlassen können“, weiß Cornelia Stieler. So auch Katharina Langer. Nach Jahrzehnten hatte die vor dem Haus in Bojków gestanden, das ihr Vater einst gebaut hatte und das sie als Vorschulkind für immer verlassen musste. Eine entfernte Verwandte, die nach dem Zweiten Weltkrieg geblieben war, stand ihr als Dolmetscherin zur Seite. Sie bat darum, der Besucherin einen Blick in deren früheres Zuhause zu erlauben. Die polnische Frau, die nun mit Mann und Kind in ihrem Elternhaus wohnte, wies sie ab: „Deutsche? Nein, die wollen wir hier nicht sehen!“ Die Verwandte blieb hartnäckig: „Lass sie doch kurz gucken. Dafür sind sie extra aus Malchow angereist.“ Als die Polin den Namen der mecklenburgischen Kleinstadt hörte, öffnete sie ihre Haustür: „Malchow? Kommen Sie herein!“
Dass jemand in Bojków aufhorcht, wenn von ihrer rund 700 Kilometer entfernten neuen Heimat die Rede ist, überraschte Katharina Langer damals. Fragend blickte sie die Unbekannte an: „Sie kennen Malchow?“ Die Frau streckte ihr den linken Arm entgegen und krempelte den Ärmel hoch. Deutlich war die eintätowierte KZ-Häftlingsnummer erkennbar. Die neue Bewohnerin ihres Elternhauses hatte Auschwitz überlebt. Später kam sie als Zwangsarbeiterin des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück in die Munitionsfabrik in Malchow, wo Katharina Langer und andere Schönwalder nach der Vertreibung gelandet waren.
Es dauerte lange, bis Katharina Langer über die dunkle Seite ihrer Kindheit sprechen konnte. Ihr Elternhaus hatte sie zuvor noch mehrfach besucht und war dort von der KZ-Überlebenden jedes Mal großzügig bewirtet worden. Keine der beiden Frauen erwähnte dabei jemals wieder die Häftlingsnummer. Die Malchowerin hat seither oft die Gedenkgottesdienste zum Jahrestag der Befreiung von Ravensbrück mitgefeiert. „Wie ist es, wenn man eine persönlich kennt, die dort inhaftiert war?“, hat Cornelia Stieler sie einmal gefragt, und: „Was würdest du ihr sagen, wenn du sie heute noch einmal treffen könntest?“ – „Vielleicht, dass ich inzwischen mehr weiß und dass ich, solange ich noch die Kraft hatte, in Ravensbrück jedes Mal eine Kerze für sie angezündet habe“, lautete die Antwort. Viele Jahre später, am 19. Januar 2025, stehen ihr Sohn Stefan und Pjótr, der Enkel der inzwischen gestorbenen KZ-Überlebenden, nebeneinander auf dem Friedhof von Bojków. Sie beten für Opfer und Täter der Nazizeit und für alle, die zugeschaut oder weggeschaut haben, als Menschen in Schönwald zu Opfern wurden.

Foto: privat

Cornelia Stieler möchte dazu beitragen, dass im Heimatdorf ihrer Mutter alte Verletzungen heilen und Versöhnung wächst. Eine wichtige Etappe auf diesem Weg begann 2022 nach Russlands Angriff auf die Ukraine. Viele der heutigen Bewohner von Bojków sind Nachkommen von Galiziern, die 1945 aus dem Grenzgebiet zwischen Polen und der Ukraine durch die Rote Armee vertrieben wurden, um dort Ukrainer anzusiedeln. Jetzt kamen ausgerechnet Flüchtlinge aus der Ukraine und suchten im Dorf Schutz. Cornelia Stieler sah, dass die Einwohner von Bojków überfordert waren. Ihr Verein wollte helfen. Er gab Geld und organisierte einen großen Hilfstransport, hielt sich dabei aber im Hintergrund. In Gleiwitz wurde Bojków zum Vorzeige-Stadtteil für einen guten Umgang mit Flüchtlingen, und die Dorfgemeinschaft fühlte sich dadurch bestärkt. Auch so wuchs zwischen Deutschen und Polen Nähe, gegenseitiges Interesse und die Bereitschaft, sich an schmerzliche Tabuthemen heranzutasten. In fast jeder polnischen Familie gibt es jemanden, der im KZ war oder Zwangsarbeit leisten musste. Das hatten Nachfahren der Schönwalder nicht gewusst.
Die Zeitzeugen, die vom Geschehen der Kriegszeit erzählen können, werden weniger. „Es ist an meiner Generation, Verantwortung dafür zu übernehmen, dass die Erinnerung wachgehalten wird“, findet Stieler. Mit anderen Schönwalder Nachfahren in Kontakt zu kommen, war schwierig. Häufig schirmten die Zeitzeugen ihre Kinder und Enkel ab. „Lass sie in Ruhe, die haben doch nichts damit zu tun“, hörte sie häufiger – auch von Katharina Langer. Ihr Sohn Stefan, katholischer Pfarrer im Süden Hamburgs, beschäftigte sich schließlich auch ohne das Zutun seiner Mutter mit seiner Familiengeschichte: „Versöhnung und Friede, das ist doch die Botschaft, die ich als Priester zu verkündigen habe!“ Cornelia Stieler hat ihn motiviert, gemeinsame Schritte in die Zukunft zu gehen.

Foto: (c) Kirsten Seyfarth

Auch Clemens Metzmacher hat sich von ihr anstecken lassen. Zuerst hatte er ihre E-Mails lange ignoriert. „Ich hatte Vertriebenenverbände vor Augen, die die Zeit zurückdrehen wollen. Auf so etwas hatte ich keinen Bock“, erzählt er. Dann erfuhr er von Cornelia Stieler, dass ein KZ-Wärter, der nach dem Krieg wegen mehrerer Morde an Häftlingen hingerichtet worden war, mit ihm verwandt ist – und war schlagartig motiviert mitzumachen. „Wenn ich meinen Großvater nach der Nazizeit fragte, antwortete er immer: ,Nicht fragen! Wir waren weit weg, wir waren unwichtig’“, erinnert er sich. Die Vergangenheit seiner Familie sei für ihn wie ein „wabernder Nebel“ gewesen. Langsam bekomme er jetzt ein Gefühl für die Geschichte seiner Familie, zu der Täter und Opfer gehören. „Natürlich trifft mich selbst keine Schuld, aber ich bin verbunden mit den Geschichten, die verbreitet oder eben totgeschwiegen werden. Wie unsere Geschichte weitererzählt wird, liegt in meiner Verantwortung“, sagt der Dresdner Psychologe. In den 1990er-Jahren hat er eine Zeitlang in Südafrika die Arbeit der Wahrheitskommissionen verfolgt, die dort politisch motivierte Verbrechen aus der Zeit des Apartheid-Regimes aufklärten. In Erinnerung geblieben ist ihm die Antwort einer Frau auf die Frage, warum sie sich solch belastenden Erinnerungen stelle: „Damit wir alle unsere Menschlichkeit wiederbekommen.“ Diese Worte schwingen mit, wenn er sich jetzt seiner Familiengeschichte annähert.
Heute weiß er, dass sein inzwischen verstorbener Großvater wie viele andere Schönwalder auch in einer falschen eidesstattlichen Erklärung bezeugte, dass der dann verurteilte Kriegsverbrecher aus Schönwald ein guter Katholik war, der in die Kirche ging und im Kirchenchor sang und folglich nichts Schlechtes getan haben könne. Wie geht man als Familie mit dem Wissen um einen solchen Meineid um? „Mein Vater sagt, er kann sich da gerade nicht positionieren“, berichtet Clemens Metzmacher. Er respektiere das. Brüche im Umgang mit der eigenen Geschichte sollten sichtbar bleiben dürfen, findet er, und: „Schuldzuweisungen helfen niemandem“. Es stehe ihm auch nicht zu, über das Verhalten seiner Vorfahren zu urteilen. Er tausche sich aber viel mit seinen Geschwistern über das damalige Geschehen aus. Die harte Wahrheit ist für ihn leichter zu ertragen als der Nebel, in den seine Familiengeschichte zuvor gehüllt war. „Mich mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen, lässt mich ganz werden“, sagt er.
Echter Frieden brauche Wahrheit, betont Cornelia Stieler. Schönwalds Erben müssten noch vielen Fragen auf den Grund gehen. Wie konnte es dazu kommen, dass so viele im Dorf Morde deckten, laute eine davon. Manche wehren es mit allen Kräften ab, sich dem Dunklen der Dorfgeschichte zu stellen. Cornelia Stieler hingegen findet darin Frieden. „Freunde erklären mich für verrückt, wenn ich im Urlaub in Konzentrationslager fahre. Mich stärkt es auf meinem Weg der Versöhnung – mit mir selbst, mit anderen und mit Gott.“

Foto: privat

In den Tagen vor der Einweihung des Todesmarsch-Denkmals trifft sie sich mit anderen Schönwalder Erben und Bojkówer Bürgern in Auschwitz. „Nicht nur die Erinnerungen an früher haben uns verbunden, sondern ein tiefes menschliches Interesse aneinander“, sagt Clemens Metzmacher. Stefan Langer steht auch dort neben Pjótr, dem Enkel der Frau, die zur Fronarbeit in der Malchower Munitionsfabrik gezwungen wurde. „Wir haben uns umarmt und gesagt: All das darf nicht wieder passieren“, erzählt der Priester, „wie gut, dass wir uns kennengelernt haben!“ Zurück in seiner Gemeinde, hat er mehrfach über diese Erlebnisse gepredigt. „Zur Versöhnung braucht es Bereitschaft von beiden Seiten. Letztlich ist sie ein Geschenk, das nur wirken kann, wenn auch ich es annehme“, sagt er. Kinder von Weltkriegs-Zeitzeugen suchen seither das Gespräch mit ihm. Sie fangen an, über Erinnerungen ihrer Familie zu reden, die bis dahin von Schweigen umhüllt waren.
Für Anfang Mai haben sich Pjótr und Stefan erneut verabredet. Am 80. Jahrestag der Befreiung von Ravensbrück und Malchow wollen sie dort stellvertretend für Pjótrs Großmutter und Stefans Mutter Kerzen anzünden und eine Gedenkstätte für die Malchower Zwangsarbeiter einweihen.
Das ist auch im Sinn von Cornelia Stieler. Über persönliche Betroffenheit hinaus sieht sie es als wichtige politische Aufgabe, Verletzungen zwischen Deutschen und Polen zu heilen: „Europa ist im Umbruch. Vor uns liegen große Aufgaben, die wir nicht meistern können, wenn wir unsere unbewältigte gemeinsame Geschichte weiter ignorieren.“
Dorothee Wanzek


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2025.
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