16. Dezember 2016

In der Haut des anderen

Von nst1

Wie gut wir mit unseren Mitmenschen auskommen, hängt auch davon ab, ob wir mit ihnen mitfühlen und uns in sie hineinversetzen können. „ Empathie“ ist das Schlagwort dafür.  Aber was ist damit gemeint? Kann man Mitgefühl lernen? Philipp Kanske, Psychologe und Neurowissenschaftler in Leipzig, steht uns Rede und Antwort.

Herr Kanske, wie stark hängt unser Denken und Verhalten davon ab, wie die Menschen um uns herum fühlen, denken und handeln?
Kanske:
Dass wir das Denken und Verhalten anderer berücksichtigen, gehört zu unserem Menschsein. Und zwar von Geburt an. Untersuchungen zeigen, dass Neugeborene direkt, nachdem sie auf die Welt gekommen sind, Gesichtsmimik nachahmen. Und das setzt sich fort: Schon kleine Kinder berücksichtigen in ihrem Verhalten, was andere wollen oder brauchen könnten oder wie sie sich verhalten. Untersuchungen belegen, dass sie schon verstehen, wenn sich jemand antisozial verhält. Spielt man ihnen vor, wie sich eine Puppe unfair gegenüber anderen Puppen verhält, spielen sie fortan mit dieser Puppe weniger. Nach einer Versuchsanordnung aus den 1950er-Jahren hat man Erwachsene in einer Gruppe Urteile abgeben lassen. Wenn die anderen in der Gruppe behaupteten, eine Linie A sei länger als eine Linie B, obwohl das nicht der Fall war, neigten die Testpersonen dazu, sich nach der Gruppe zu richten. Sie stellten ihr eigenes Empfinden zurück und gaben dem Gruppendruck nach.

Sind Empathie und Mitgefühl dasselbe?
KANSKE:
Unter Empathie im engeren Sinn verstehen wir die Fähigkeit, die Gefühle anderer zu teilen. Wenn mir ein Freund etwas Trauriges erzählt, das ihm passiert ist, kann mich das auch traurig machen: Ich teile sein Gefühl.
Mitgefühl oder im Englischen „Compassion“ ist etwas anderes. Wir meinen damit die Fähigkeit, für eine andere Person ein positives Gefühl zu entwickeln. Wenn ich die Traurigkeit meines Freundes teile, kann ich dazu auch positive Gefühle liebevoller Güte, Wärme, Besorgnis für ihn empfinden. Diese Gefühle sind dann nicht mehr die gleichen, die er empfindet. Sie gehen über die geteilte Traurigkeit hinaus.

Sie verwenden in der Wissenschaft zusätzlich den Begriff „Mentalisierung“.
KANSKE:
Alle drei Begriffe bezeichnen Fähigkeiten, die im sozialen Miteinander wichtig sind. Während es bei Empathie und Mitgefühl eher um Gefühle geht, meint „mentalisieren“ oder „Theory of mind“ – „Theorie des Geistes“, dass wir uns auch intellektuell mit dem anderen beschäftigen. Solche Gedanken kann man auch als Perspektivübernahme bezeichnen: Ich versuche, mich in seine Haut zu versetzen und die Situation aus seiner Sicht zu sehen. Ein Beispiel: Zwischen mir und meinem Gesprächspartner steht eine Tasse. Auf meiner Seite ist sie bedruckt. Dann weiß ich, dass der andere den Aufdruck nicht sehen kann. Und das lässt sich auch abstrakt weiterführen. Ich kann darüber nachdenken: Ist das jetzt wirklich Traurigkeit oder eher Groll, was der andere empfindet? Was hat er für eine Absicht? Wie wird er als Nächstes reagieren?

Ist die Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl unterschiedlich ausgeprägt?
KANSKE:
Wie groß die Unterschiede sind, wollten wir in einer relativ großen Untersuchung bei Erwachsenen zwischen 20 und 55 Jahren herausfinden. Wir haben festgestellt, dass es eine große Bandbreite gibt, wie spontan und wie gut Menschen diese Fähigkeiten nutzen können. Allerdings haben wir noch wenig verstanden, was die Ursachen dieser Unterschiede sind. Das sind zum Teil genetische Veranlagungen, zum Teil ist es erlernt; aber welche Erfahrungen in welche Richtung wirken, wissen wir noch nicht.

Sicher empfinden wir gegenüber Freunden doch eher Mitgefühl oder Empathie als gegenüber Fremden?
KANSKE:
Klar. Wenn jemand zu einer anderen Gruppe gehört oder sich zuvor unfair verhalten hat und unsympathisch ist, werden wir weniger Empathie haben. Andersherum ist es natürlich so: Je mehr ich über den anderen weiß und auch weiß, warum die Person in einer Situation auf eine bestimmte Art und Weise handelt, desto eher kann ich mit ihr mitfühlen.

Wenn Sie Empathie und Mitgefühl untersuchen, wie gehen Sie vor?
KANSKE:
Die ersten Untersuchungen zur Empathie wurden mit körperlichem Schmerz gemacht. Den Testpersonen selbst, aber auch anderen Menschen wurde ein leichter Schmerz zugefügt. Dann hat man geschaut, was empfindet eine Person, wenn sie selbst oder wenn andere Schmerz erleben. Dabei hat man entdeckt: Es gibt Teile im Gehirn, die in beiden Fällen aktiv sind.
Mittlerweile sind die Untersuchungen komplexer. Wir haben Personen kurze Ausschnitte aus Gesprächen gezeigt, die emotional sehr bewegend sein können. Dann sehen wir, dass ähnliche Areale im Gehirn uns das Einfühlen in den anderen ermöglichen.
Es ist nie nur eine einzige Stelle aktiv. Es sind immer Netzwerke in verschiedenen Regionen, die zusammenarbeiten. Und da ist bei der Empathie teilweise ein anderes Netzwerk im Spiel, als wenn wir Mitgefühl für andere empfinden oder versuchen, ihre Perspektive einzunehmen.

Wie hängen die sogenannten Spiegelneuronen damit zusammen?
KANSKE:
Stichfeste Belege für Spiegelneuronen gibt es vor allem bei Tieren. Bei Affen hat man Untersuchungen gemacht und beispielsweise nachgewiesen, dass es Nervenzellen gibt, die sowohl aktiv sind, wenn sie selbst nach etwas greifen oder wenn sie beobachten, wie ein anderer greift. Die Zellen werden Spiegelneuronen genannt, weil sie das eigene und das Verhalten anderer gleichsam spiegeln. Daraus hat man geschlossen, Spiegelneuronen könnten auch der Empathie zugrunde liegen, wenn wir die Traurigkeit des anderen teilen, sein Gefühl sozusagen spiegeln. Aber dabei handelt es sich um komplexere soziale Gefühle; da sind die Zusammenhänge nicht so klar wie bei einfachen Bewegungen.

Kann jemand, der wenig Empathie oder Mitgefühl aufbringt, diese Fähigkeiten lernen?
KANSKE:
Zunächst möchte ich noch etwas vorwegschicken: Die Fähigkeiten, wie stark eine Person mitfühlen und wie gut sie die Perspektive anderer einnehmen kann, hängen nicht unbedingt miteinander zusammen. Es gibt also nicht so etwas wie eine generelle soziale Fähigkeit. Das kann bei jemandem zusammengehen, muss aber nicht. So gibt es bestimmte psychische Störungen, bei denen nur eine dieser Fähigkeiten beeinträchtigt ist, die andere nicht. Das spricht auch dafür, dass es wirklich getrennte Fähigkeiten sind, bei denen im Gehirn unterschiedliche Netzwerke aktiv sind. Das wiederum legt nahe, dass wir diese Fähigkeiten auch unterschiedlich trainieren müssen. Wir können kein generelles Training anbieten, sondern müssen zielgerichtet die emotionalen oder die kognitiven Bereiche ansprechen.
Ja, Empathie und Mitgefühl lassen sich tatsächlich trainieren, vor allem mit Meditationsverfahren. Die vom Buddhismus inspirierte Metta-Meditation kultiviert das Mitgefühl für andere. So stellt man sich bei den Übungen erst mal jemanden vor, bei dem einem das Mitgefühl besonders leicht fällt, zum Beispiel das eigene Kind. Dann bemüht man sich, dieses Gefühl auch auf Leute zu übertragen, die man nicht so gut kennt, beispielsweise die Verkäuferin im Supermarkt, und erweitert das auf alle Menschen, sogar auf alle Wesen. Das wird in der Meditation immer wieder durchexerziert.
Die Psychotherapie kennt die „Compassion Focused Therapy“, die das Mitgefühl stärken will. Dahinter steckt auch das Problem, dass es bei Helferberufen wie in der Krankenpflege, die mit viel Leid konfrontiert sind, durch Empathie, also das Teilen des Leids der Anderen, zu einer Art empathischem Stress kommen kann. Damit gemeint ist, dass das Einlassen auf das Leid anderer ein „Zuviel“ an eigenem Leiden und damit eine Überlastung mit sich bringen kann. Den Pflegenden bleibt dann nur, sich abzugrenzen, um das Leid nicht zu spüren – was eine zugewandte, offene Pflege verhindern kann. Mitgefühl oder „Compassion“, also das positive Gefühl liebevoller Güte, ist hingegen für mich selbst aufbauend: Auch wenn es dem Anderen nicht so gut geht, kann ich dennoch für ihn ein Gefühl der Besorgnis und Liebe haben, muss mich also nicht abgrenzen, um das Leid nicht mehr teilen zu müssen, und kann weiterhin zugewandt bleiben. Das ist die Idee dahinter.

Was bewirkt ein Training?
KANSKE:
Wer es hinter sich hat, zeigt nicht nur stärkeres Mitgefühl und die damit verbundene Aktivierung im Gehirn, sondern verhält sich auch anders, hilft beispielsweise mehr. Indem es den Stress verringert, kann es sich auch positiv auf die Gesundheit auswirken. Wer sich dafür interessiert, kann in seiner Stadt nach MBSR-Lehrern Ausschau halten – das steht für „Mindfulness Based Stress Reduction“ oder auch „Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“.

Herzlichen Dank für das Gespräch!
Clemens Behr

Philipp Kanske,
geboren 1980, ist Psychologe, Neurowissenschaftler und Psychotherapeut. Für seine Habilitation hat er sich damit befasst, wie wir Gefühle regulieren können, wie das Gehirn dies bewerkstelligt und welche Veränderungen es bei affektiven Störungen wie Depressionen gibt. Kanske ist Privatdozent am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und leitet dort die Forschungsgruppe Psychopathologie des sozialen Gehirns.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Dezember 2016)
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