18. Juli 2017

Ronnys Licht

Von nst5

Er hatte keinen glücklichen Start ins Leben und kann doch strahlen vor Freude und Dankbarkeit. Seit Ronny Zimmermann bei ökumenischen Friedensgebeten gegen Ende der DDR-Zeit erstmals eine Kirche betrat, ist sein Leben heller geworden.

Eine Kirche hatte Ronny Zimmermann in den ersten 15 Jahren seines Lebens nie von innen gesehen. „An Gott zu glauben, war in DDR-Kinderheimen doch verboten“, gibt der heute 42-Jährige zu bedenken. Umso intensiver erlebte er während der Friedlichen Revolution von 1989 die Friedensgebete in der evangelischen Martins-Kirche in Bernburg, die das Ende der DDR einläuteten. Erzieher des Heims hatten ihn dorthin mitgenommen. Er erinnert sich, dass ihn plötzlich ein Licht erfüllte, für das er keine natürliche Erklärung fand, und dazu eine tiefe Gewissheit: Es gibt Gott.
Nach diesem ungewöhnlichen Erlebnis ging der Alltag zwischen Schule und staatlichem Kinderheim erst einmal so weiter wie gewohnt. Das Bernburger Heim erschien ihm als das Beste, was ihm in seinem bisherigen Leben passiert war. Abgesehen einmal von dem Jugendlichen, der jeden unbeobachteten Moment nutzte, ihn zu beleidigen und zu malträtieren … „Die Betreuer haben dort aber viel für mich getan. Ich habe eine Menge gelernt und erstmals so etwas wie ein Zuhause gehabt.“
In drei Heimen zuvor fühlte er sich „herumgeschoben wie eine Schachfigur“. Warum er die Einrichtungen so oft wechseln musste, versteht er bis heute nicht. Die ersten fünf Lebensjahre bei seinen Eltern sind wie ausgelöscht aus seinem Gedächtnis. Von Jugendamts-Mitarbeitern weiß er, dass er dort vernachlässigt und gequält wurde. Eine leichte seelische Behinderung und eine Lern-Beeinträchtigung sind ihm aus dieser düsteren Zeit für den Rest seines Lebens geblieben.
Die Friedensgebete hatten Ronny Zimmermann hellhöriger gemacht. Immer wieder hatten Bernburger Mitbürger dort über ihre persönlichen DDR-Schicksale berichtet, hatten erzählt, wie sie bespitzelt worden waren oder wie man sie daran gehindert hatte, das Land zu verlassen. Plötzlich fiel ihm auf, dass Behinderte häufig keine Schule besuchen durften, dass viele von ihnen mit ihren Stärken und Begabungen nicht wahrgenommen und gefördert wurden. Die offenen Worte in der Kirche hatten ihm Mut gemacht, selbst das Wort zu ergreifen. Zum Beispiel traute er sich, seiner Geschichtslehrerin laut zu widersprechen, als sie während des Unterrichts behauptete: „In der DDR gibt es keine Gewalt.“ Er hielt mit seinen eigenen Erlebnissen dagegen.

Als er mitten in der politischen Umbruchzeit Anfang der 1990er-Jahre ein weiteres Mal die Einrichtung wechseln musste, war das für ihn zunächst schockierend. Er wurde in die 60 Kilometer entfernte Kleinstadt Burgkemnitz versetzt, in eine Einrichtung für geistig und mehrfach behinderte Jugendliche und junge Erwachsene, unter denen er sich fehl am Platze fühlte. Nur schwer konnte er damit umgehen, dass seine neuen Mitbewohner immer wieder unvermittelt zu schreien begannen und Anfälle bekamen. Aus seiner heutigen Sicht waren auch die Betreuer nicht hinreichend auf derlei Herausforderungen vorbereitet.
Als der Heimleiter ihm eines Tages eröffnete, das staatliche Heim werde demnächst von der Caritas übernommen, fiel Ronny Zimmermann ihm spontan um den Hals. Dass Caritas und Kirche zusammengehören, wusste er, und sogleich wurden die Bernburger Licht-Erinnerungen wieder in ihm lebendig und weckten Hoffnungen, die er später auch bestätigt sah.
Die neuen Mitarbeiter zeichneten sich vor allem durch einen weitaus liebevolleren Umgang mit den Bewohnern aus. Den heranwachsenden Ronny führten sie Schritt für Schritt in eine größere Selbstständigkeit. Als einer der Ersten bezog er ein Zimmer im Betreuten Wohnen der Burgkemnitzer Einrichtung in der nahe gelegenen Industriestadt Bitterfeld.
In der dortigen Herz-Jesu-Kirche besuchte er seinen ersten katholischen Gottesdienst und war zutiefst ergriffen. „Mir flossen die Tränen“, weiß er noch, ohne Worte dafür zu finden, was damals genau in ihm vorging. Der Kontakt zur Kirche und zum Glauben wurde in den Monaten danach intensiver. Es folgten viele Gespräche mit einer Betreuerin, die überzeugte Christin war. Schließlich verabredete er sich mit dem Pfarrer. „Suchst du einfach nur Wissen über Kirche und Glauben oder geht es dir um mehr?“, fragte der ihn. Seinem jungen Gesprächspartner wurde in diesem Moment klar: „Jahrelang bin ich immer um die Kirche herumgelaufen, jetzt möchte ich endlich hineingehen.“
2005 ließ sich Ronny Zimmermann in Bitterfeld taufen. Im gleichen Jahr verschlimmerte sich die Nierenkrankheit, die in seiner Grundschulzeit zum Ausbruch gekommen war, so sehr, dass er seine damalige Arbeit in einer Malerfirma aufgeben musste. Fünf Jahre später wurde er Dialysepatient. Seit dem 9. Juli 2013 lebt er mit einer Spenderniere.

Mit Gott gehadert hat er trotz manchen Leids bisher nicht einen Augenblick. Das ist auch seinen Ärzten aufgefallen. Er sieht weniger auf das Schmerzliche in seinem Leben als auf das, was ihn froh und dankbar macht: Die neue Niere, die ihm größere Freiheit geschenkt hat und ihm ermöglicht, in einer Druck-Werkstatt des Diakonischen Werks Teilzeit zu arbeiten oder die Menschen, die sich liebevoll um ihn kümmern, so wie das ältere Berliner Ehepaar, das er vor einigen Jahren in der Fokolar-Bewegung kennenlernte. „Wir nehmen dich in unsere Familie auf“, haben sie zu ihm gesagt. Seither verbringt er jeden Sommer in Berlin und telefoniert regelmäßig mit „seiner“ Familie.
Kennengelernt hatte er die Fokolare im Jahr nach seiner Taufe in einem Wort-des-Lebens-Kreis. An das erste Zusammentreffen kann er sich noch genau erinnern: Er war als Erster gekommen, saß alleine in einem großen Raum, las sich den Kommentar zum ausgewählten Bibelwort des Monats durch – und hatte den Eindruck, in die Seele getroffen zu sein. „Das war für mich der absolute Kick!“ Bis heute trifft er sich regelmäßig in der kleinen Gruppe: „Die Liebe der Mitmenschen dort lässt mich Gott ganz nahe spüren. Das gibt mir Kraft. Daraus lebe ich jeden Tag!“ Walter Richter, der die Gruppe ins Leben gerufen hat, sieht in Ronny eine „wichtige Säule der Gemeinschaft“. Er halte sich nicht mit Belanglosem auf, sondern komme schnell zum Wesentlichen, erzähle jedesmal sehr konkret, wie er das „Wort des Lebens“ im Alltag verwirklicht. Besonders beeindruckt war Walter Richter, als Ronny bei einer ihrer Zusammenkünfte einen versöhnlichen Brief an seine Mutter schrieb. Bei seinem letzten Anruf vor mehreren Jahren hatte sie ihn schmerzlich vor den Kopf gestoßen. Das hing ihm noch immer nach. „Trotz allem, du bleibst immer meine Mama“, schrieb er ihr jetzt. Auch wenn die Mutter den Brief gar nicht lesen würde, auch wenn sie es für den Rest ihres Lebens nicht schaffen sollte, sich ihm freundlich oder gar liebevoll zuzuwenden; in seinem eigenen Herz war Frieden gewachsen.
Weil er in seinem Leben immer wieder Grund zur Dankbarkeit findet, hat er sich vor einiger Zeit für den Ministrantendienst in seiner Kirchengemeinde gemeldet: „Dann kann ich die Gottesdienste noch besser mit dem Herzen mitfeiern“, sagt er.
Die Gewalt, die er in seiner Kindheit und Jugend erlitten hat, macht Ronny Zimmermann nicht bitter oder aggressiv; sie spornt ihn an, das Böse zu durchbrechen: „Ich möchte in meinem Leben mit ganzer Kraft Gutes weitergeben!“ Das macht er auf vielfältige Weise. Oft macht er sich Gedanken, wie er seine Betreuer entlasten kann, die mit weitaus hilfsbedürftigeren Klienten als ihm alle Hände voll zu tun haben. Gern sucht er für sie zum Beispiel Zugverbindungen im Internet heraus. An seinem Bezahl-Fernsehzugang gibt er auch seinen fußballbegeisterten Nachbarn Anteil und lässt sie manches Bundesliga-Spiel anschauen. Mehrere Jahre lang hat er im Bewohnerbeirat der Burgkemnitzer Wohn- und Förderstätte mitgearbeitet. Bis heute gehört er zu einer kirchlichen Arbeitsgruppe, die sich für Menschen mit Behinderungen einsetzt. Er hat an einer Handreichung mitgearbeitet, die über Barrieren informiert, auf die Betroffene im Alltag stoßen. Gemeinsam mit hauptamtlichen Caritasmitarbeitern besucht und berät er kirchliche Einrichtungen, Gruppen und Gemeinden, die zum Abbau von Barrieren beitragen möchten.
Am 1. August wagt Ronny Zimmermann den nächsten Schritt zu mehr Selbstständigkeit. Dann zieht er in eine neue Stadt, in eine nur noch locker betreute Mietwohnung. Nach seinen Zukunftsträumen befragt, fallen ihm als erstes die Mariapolis ein, die mehrtägigen Begegnungen der Fokolar-Bewegung. „Die nächstmögliche Mariapoli von Anfang bis Ende miterleben“, wünscht er sich. Wegen seiner Krankheit war das bislang nie möglich. Der zweite Wunsch folgt gleich darauf: „Noch viele schöne Erlebnisse mit meiner Freundin!“ Die wohnt ganz in der Nähe seines neuen Wohnorts. Nach der gemeinsamen Schulzeit hatte er sie aus den Augen verloren; im vergangenen Jahr fanden sie sich wieder.
Dorothee Wanzek

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2017)
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