10. Mai 2009

Helden zeigen, was Kinder beschäftigt

Von nst_xy

Helden gehören zum Alltag von Kindern und Jugendlichen. Erwachsene tun sich mit den schrillen und schrägen Figuren aber nicht immer leicht. Die Medienpädagogin Maya Götz erklärt, was Helden zu Helden macht, und warum sie Erwachsenen nicht gleichgültig sein sollten.

Frau Götz, Kinder und Jugendliche brauchen Vorbilder und suchen sie auch im Fernsehen, in Filmen und Medien. Welche Helden wählen sie?
Götz:
Das ist individuell unterschiedlich und hängt von Alter und Geschlecht ab. Grundsätzlich gilt: Kinder suchen Helden, in denen sie sich in ihrer Situation wieder finden, mit denen sie wachsen können.
Die Kleinen – Mädchen und Jungen – finden sich in „Wickie und die starken Männer” wieder: als kleine Lebewesen zwischen lauter Großen, die zwar ganz viel Macht haben, aber irgendwann an ihre Grenze kommen und nicht mehr wissen, was sie tun sollen. Und Wickie – obwohl so klein – weiß die Lösung. Das spiegelt das Lebensgefühl der Kinder wider: Ich bin auch ganz klein, habe auch keine Macht, aber: Ich habe gute Ideen.
SpongeBob steht bei den Kindern ganz oben. Er geht positiv auf die Welt zu, ist einfach und voller Begeisterung und lässt sich nicht so leicht von seinen Vorhaben abbringen. Vor allem Jungen arbeiten ihre Erfahrungen mit SpongeBob auf, und es ist typisch für sie, sich eine Serie auszusuchen, die viel mit Humor arbeitet.
Für Mädchen ist auch Kim Possible sehr attraktiv oder Bibi Blocksberg. Sie suchen starke Heldinnen, weil sie sich selbst so erfahren: gut sozialisiert, eloquent, erfolgreich.

Sind Helden immer Siegertypen?
Götz:
Für Mädchen ist es völlig okay, wenn ihre Heldinnen auch einmal scheitern. Wenn sie einen Fehler machen, schauen Mädchen, wie sie das wieder hinbekommen. Das ist gerade später im Jugendalter nicht immer unproblematisch, denn wenn dabei Probleme immer einfach so (schnippst mit dem Finger) gelöst werden, haben sie das Gefühl, sie könnten auch die großen Probleme wie Alkohol und Drogen ganz schnell lösen.
Für Jungs ist es schwer zu ertragen, wenn ein Held etwas falsch macht. Sie wollen sehen, wie er die Herausforderung meistert. Dabei kann man zwei Typen von Helden unterscheiden: Der eine ist der Überflieger, der immer einen Weg findet und die Welt verstanden hat. Der andere Typ arbeitet mit Humor. Bart Simpson ist so ein Held, der einfach alles unterläuft und absichtlich alles falsch macht.

Wie sieht das bei Jugendlichen aus?
Götz:
Da ist die Tendenz ganz ähnlich. Die Mädchen suchen nach Heldinnen, die ihren Weg gehen. Sie bevorzugen die ,daily soaps’, weil dort ein Problem immer wieder neu beleuchtet wird: Der eine sagt das, der nächste das, und der dritte noch etwas anderes. Die Mädchen gehen die verschiedenen Perspektiven mit und bilden sich dabei ihre Meinung. Das ist für Mädchen sehr ansprechend, weil alles ausdiskutiert wird.
Jungs suchen nach handlungsorientierten Lösungswegen, nach Helden, die sich durchschlagen. Sie sind sehr viel offener für Action und Gewalt. Wir haben lange gefordert, dass es keine Gewalt in Filmen geben darf. Aber das geht an der Realität vorbei. Action steht für Handlungsorientierung, und das ist für Jungs ein ganz entscheidendes Moment. Das Problem ist, dass in den Serien und Filmen die innere Spannung immer in Gewalt umgesetzt wird.

Was kann man da tun?
Götz:
Eines der großen Probleme bei Action und Gewalt ist, dass man sie irgendwann nicht mehr sieht. Es ist ganz selbstverständlich, dass der Held zuschlägt und Waffen benutzt.
Deshalb sollte man über Kampf und Gewalt sprechen, sie nicht einfach stehen lassen. Das ist im Grundschulalter leichter als später. Verbote werden nicht funktionieren.
Jungs haben es in unserer Gesellschaft im Moment schwer. Das symbolische Material sagt ihnen: Männer sind besser und setzen sich immer durch. Im Alltag erfahren sie aber, dass Mädchen es leichter haben. Unser Schulsystem kommt den Mädchen dabei sehr entgegen; man muss stillsitzen und Aufgaben bestehen.
Wenn Jungs nach Medien und Helden suchen, die immer einen Weg finden, steht oft die Sehnsucht dahinter: „Erkenn mich an! Sieh doch, ich bin etwas wert!” Schon allein, dass man sich für ihre Figuren und Serien interessiert, wissen will, warum sie ihnen gefallen, und ihnen zuhört, kommt diesem Bedürfnis entgegen. Deshalb führt es meines Erachtens weiter, wenn man sich in ihre Welt mitnehmen lässt. So versteht man auch, welches Bedürfnis dahinter steht, und kann Wege finden, wo ein junger Mensch seine Fantasien ausleben und auch im Alltag Anerkennung erfahren kann.
In der Pubertät kommen die Jugendlichen heute oft sehr selbstbewusst daher. Das überdeckt all die Unsicherheit, die in ihnen steckt. Über solche Themen und Gespräche können sie sich jedoch mitteilen.
Deshalb braucht es in der Familie solche Momente des Gesprächs.

Und außerhalb der Familie?
Götz:
Auch dort! Überall, wo Raum ist, Medien einzusetzen oder sie einzubeziehen. Das gibt gerade denen, die sonst keine Experten sind, die Möglichkeit, sich als Experten darzustellen. Sie können dann in einer Weise, bei der sie noch relativ unverletzlich sind, etwas von sich erzählen. In der Schule und in Jugendgruppen werden viele Chancen vergeben, wenn man gleich zurückschreckt und sagt, das sieht schrecklich aus und ist gewalthaltig. Das Entscheidende ist, sich damit auseinanderzusetzen.
Wir haben eine vom Markt getriebene Kultur: Für jede Altersgruppe wird etwas Eigenes angeboten, jeder hat seine eigenen Medienwelten, auch die Erwachsenen. In diesen unterschiedlichen Welten verlieren wir einander dann auch schnell und verpassen es, junge Menschen dort zu unterstützen, wo wir sie unterstützen sollten.

Ändern sich Helden im Lauf der Zeit?
Götz:
Die Heldenfiguren ändern sich, aber die Stoffe bleiben gleich. Es geht immer um dieselben Grundmotive: sich in Harmonie erleben, sich sozial verantwortlich erleben, Abenteuer erleben. Diese Motive werden in der jeweiligen Literatur oder im symbolischen Material aufgegriffen und umgesetzt. Manchmal gibt es Autoren, die so tief an die Wünsche der Kinder herankommen, dass die Helden auch über lange Zeit funktionieren, wie beispielsweise bei Astrid Lindgren. Aber es gibt sehr viele Helden, die zeitspezifisch sind.

Noch ein Wort zu Casting-Shows; auch dort geht es um Vorbilder.
Götz:
Diese Sendungen hätten vor 20 Jahren nie so funktioniert wie jetzt. Heute haben sie bei den zwölf- bis 17-jährigen Mädchen einen Marktanteil von 50 Prozent. Formate wie „Germanys next Topmodel” passen in unsere Zeit. Die Welt der Jugend hat sich geändert. Der Druck hat zugenommen. Es geht um Leistungsorientierung und um die Angst, keinen Abschluss oder Beruf zu haben. Genau darauf bauen die Casting-Shows auf und zeigen, wie junge Menschen es scheinbar schaffen können, den Anforderungen, die an sie gestellt werden, zu genügen.
Und die Jugendlichen schauen sich genau das an: Schaffen es die Kandidaten? Sie urteilen zwar „Das ist ja völlig affig” oder „Wie kann man so blöd sein?”, nehmen gleichzeitig aber auch ganz selbstverständlich bestimmte Verhaltensweisen und Werte mit.
Dieter Bohlen beispielsweise gehört zu den zehn beliebtesten Fernsehfiguren bei Kindern. Gerade Jungs sagen mit einer sehr hohen Zustimmung: „Von Dieter Bohlen kann man lernen, wie man mit Freunden umgeht.” Aber wir haben keine Ahnung, wie die Menschen wirklich sind, wir haben keine Ahnung, wie die Situation ist. Wir wissen überhaupt nicht, wie Dieter Bohlen ist.
Leider wird hier sehr wenig reflektiert, nicht zuletzt deshalb, weil die Erwachsenen, die dabei sitzen, genauso darauf hereinfallen. Es geht hier nicht um Reality-Fernsehen, es ist reine Inszenierung. Nur bestimmte Ausschnitte werden gezeigt, die mit entsprechender Musik unterlegt werden. Die Zuschauer folgen der Dramaturgie, die die Autoren anbieten, und denken: „Wie kann der sich da hinstellen?” Dieter Bohlen drückt genau das aus, und man hat das Gefühl: Der sagt es wenigstens ehrlich. So wird Dieter Bohlen zum Inbegriff der Ehrlichkeit.

Was würden Sie sich wünschen?
Götz:
Dass man im Medium selbst mehr auf Qualität setzt. Das Bedürfnis, Herausforderungen zu meistern, an Grenzen zu stoßen, mit Versagen und Problemen umzugehen, ist da. Das gehört heute mehr denn je zu unserer Gesellschaft, und man darf das nicht ignorieren. Aber Casting-Shows folgen immer nur einem bestimmten Muster. Dabei gehen Vielfalt und Kreativität verloren. Außerdem könnte man Wege finden, dieses Bedürfnis aufzugreifen, ohne dabei Menschen niederzurichten.
Dann sollten wir in der Öffentlichkeit noch sehr viel mehr darüber sprechen, die Themen in die pädagogische Arbeit aufnehmen und überlegen, wie man die Begeisterung von Kindern und Jugendlichen aufgreifen kann.
Und ich würde mir vor allem wünschen, dass sich Erwachsene mehr auf Kinder und Jugendliche einlassen und versuchen zu verstehen, was hinter bestimmten Verhaltensweisen steckt. Ihre Fantasien und ihre Begeisterung sind manchmal schräg und befremdlich, aber es lohnt sich. Man kann vieles entdecken.

Herzlichen Dank für dieses interessante Gespräch.
Gabi Ballweg

Maya Götz
41, ist seit 2003 Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen beim Bayerischen Rundfunk in München, wo sie 1999 ihre Arbeit als wissenschaftliche Redakteurin begann. Zuvor hatte sie das Staatsexamen für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen an der Pädagogischen Hochschule zu Kiel abgelegt und in Kassel zum Thema „Fernsehen im Alltag von Mädchen” promoviert. Zu den Schwerpunkten von Maya Götz gehört die Forschung im Bereich „Kinder/Jugendliche und Fernsehen”. Frau Götz ist verheiratet und Mutter von zwei Töchtern.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2009)
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