19. März 2014

Aus Zwickmühlen in die Balance

Von nst1

Erschöpft, müde, ausgebrannt: Burn-out. Immer mehr Menschen klagen über diesen Erschöpfungszustand.  Was dahinter steckt und warum es kein Zeichen von Schwäche ist, sondern zu einer Chance werden kann, erklärt Gunther Schmidt, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie.

Herr Schmidt, sind Burn-outs eine Modeerscheinung?
SCHMIDTSie sind eine ernsthafte Erkrankung und für die Betroffenen sehr belastend. In Deutschland schätzt man wirtschaftlich die Kosten auf 25 bis 30 Milliarden Euro im Jahr. Dass man heute aber häufiger von Burn-outs spricht als früher, hat sicher mit einem kommunikativen Trend zu tun, der jedoch nicht über die Problematik hinwegtäuschen darf.

Was sind denn typische Symptome?
SCHMIDT: Auch in der Fachwelt meinen viele, dass Burn-out eine Form der Depression sei, und für die Krankenkassen ist es keine eigene, sondern nur eine Zusatzdiagnose. Viele der oberflächlichen Erscheinungsformen sind auch durchaus ähnlich: allen voran die massive Erschöpfung, körperlich wie  auch emotional und seelisch. Damit einher gehen oft massive Konzentrationsstörungen,  Apathie, Schlaflosigkeit, Irritationen, dass man sich nichts mehr zutraut und Angst hat vor Aufgaben, die man früher locker bewältigt hat. Häufig reagieren die Personen zunehmend zynischer und verbitterter, ziehen sich aus sozialen Kontakten zurück oder reagieren abwertend, grantig, aggressiv – auch auf Kontakte, die ihnen bisher wertvoll waren. Es gibt auch somatische Begleiterscheinungen: Schweißausbrüche, Zittrigkeit, Tinnitus, zunehmende Infektionsanfälligkeit; manche haben hohen Blutdruck, andere extrem niedrigen – eine breite Palette also.

Sind Burn-outs dann schwer zu erkennen?
SCHMIDT: Wenn man jemand länger kennt, ist es leichter, weil man sieht, wie sich das Verhalten deutlich verändert. Weil die Betroffenen den Zustand sehr beschämend und als Schwäche empfinden, tun sie alles, damit es nicht wahrgenommen wird. Oft greifen sie zu Medikamenten, zu Amphetaminen oder anderem und sind dann so aufgedreht, dass sie Schlaftabletten brauchen, um zur Ruhe zu kommen. Auch Alkohol kann eine Rolle spielen.

Wann sollte man hellhörig werden?
SCHMIDT: Am sozialen Verhalten kann man vieles ablesen. Wenn sich jemand zunehmend in die Arbeit flüchtet, Sozialkontakte und Freizeitbeschäftigungen stark reduziert und sich dabei verzweifelt bemüht, den gestellten Anforderungen noch mehr gerecht zu werden: Das wären schon deutliche Zeichen, und da sollte man das Gespräch suchen. Oder wenn jemand Beschwerden signalisiert wie Schlaflosigkeit, schnelle Irritation und Erschöpfung, oder sich immer mehr Selbstzweifel zeigen und man sich nichts mehr zutraut auch in Bezug auf Aufgaben, die man früher locker bewältigt hat.

Ist Burn-out denn ein Zeichen von Schwäche?
SCHMIDT: Im Gegenteil! Burn-out-gefährdet sind gerade jene, die sich weit über das übliche Maß engagiert und kompetent eingesetzt und für die jeweiligen Aufgaben und die Sache geglüht haben. Man sagt nicht umsonst: Wer ausgebrannt ist, muss einmal gebrannt haben. Solche Menschen gehen leider oft über die eigene Belastungsgrenze hinaus, haben über viele Jahre große Stärke gezeigt. Deshalb ist es fatal, wenn man von Schwäche oder Krankheit spricht. Damit würde quasi amtlich bestätigt: Ich bin nicht kompetent, nicht leistungsfähig. So powern sie noch mehr, bevor sie etwas unternehmen.
Typischerweise kommt nach dem ersten Glühen allmählich die Enttäuschung, dann Frustration, verbunden mit Zynismus und dem steigendem Druck, noch mehr machen zu müssen. Gleichzeitig gibt es aber schon körperliche Rückmeldungen, dass eine Grenze erreicht ist. Trotzdem sagt das Wertesystem ihnen: Du darfst keine Schwäche zeigen. Das ist eine massive Zwickmühle, häufig eine Mehrfachmühle von Widersprüchlichkeiten, die auf die Menschen einwirken.
Wenn der Körper mit dem Burn-out-Syndrom reagiert, sollte man das als kompetentes, intuitives Feedback ansehen, wie eine Warnlampe, die signalisiert: Da ist eine Schieflage, etwas muss in den Blick genommen werden!

Man muss also lernen, mit den Anforderungen umzugehen?
SCHMIDT: Es geht natürlich um die eigene innere Haltung zu den Aufgaben, Herausforderungen, Situationen. Genau darin liegen auch die Gestaltungschancen der Betroffenen. Aber das Thema Burn-out nur als individuelles Thema abzuhandeln, wäre völlig falsch.
Die Erfahrung zeigt, dass es immer um den Kontext geht, vor allem um die Arbeitswelt: Man soll etwas für seine Gesundheit tun, bekommt gleichzeitig aber immer mehr Aufgaben. Ab einer bestimmten Führungsebene erwartet man eine nahezu 24-stündige Erreichbarkeit. Das Tragische ist, dass vor allem die, die sich ohnehin schon selbst antreiben, dadurch unter Druck kommen. Und das wird durch strukturelle Einladungen massiv genährt. Die Organisation ruft dann: Achte auf dich! Aber so, dass alle Aufgaben erledigt werden!

Sie sprachen von Mehrfachmühlen.
SCHMIDT: Das trifft vor allem das mittlere Management. Oft müssen die Personen da vor ihren Mitarbeitern Umstrukturierungsmaßnahmen vertreten, hinter denen sie selbst nicht stehen. Konsequenterweise müssten sie kündigen, sind aber um die 50, haben Familie und Kinder, die noch studieren; das Haus ist noch nicht abbezahlt. Solche Widersprüchlichkeiten in den Leuten zermürben sie. Es geht also nicht nur um die Erwartungs- oder Anforderungsfelder der Arbeitswelt. Hinzu kommen Familie, Freunde, Beziehungen; außerdem will man etwas für seinen Körper tun, etwas Kultur mitbekommen und vieles mehr. Für all das bräuchte es 72 Stunden pro Tag. Dem kann man nicht gerecht werden. Wenn da jemand meint, er sei nur in Ordnung, wenn er allen gerecht wird, kommt er in eine massive, existenzielle Zwickmühle.

Sind Firmen sich dessen bewusst?
SCHMIDT: Große Firmen und Organisationen merken, dass es um einen echten Kosten- und Problemfaktor geht. Sie wollen etwas unternehmen, stecken aber selbst auch in Zwickmühlen, vor allem in der Angst um die Konkurrenzfähigkeit. Die gute Absicht ist zwar da, aber das umzusetzen ist sehr viel schwieriger, als man denkt.

Womit könnte man das beschleunigen?
SCHMIDT: Wenn man die Grenzbildungskompetenz stärker entwickelt, also lernt, auf die eigenen Grenzen zu achten und in Firmen Sensibilität dafür entwickelt, dass nicht diejenigen die Stärksten, Erfolgreichsten und Kompetentesten sind, die sich bis zum Exzess einbringen, sondern die, die kompetent und zielstrebig arbeiten, dabei aber die persönlichen Grenzen beachten.
Und wenn man präventiv mehr Zirkel einrichtet, in denen Menschen darüber reden können, wie ihre Arbeitsanforderungen sind und wie sie eine gute Balance finden zwischen Engagement und Abgrenzung.
Bisher ist die Botschaft aus den Führungsetagen: Es ist nie genug! Da muss man das Bewusstsein fördern, dass Körperrückmeldungen Kompetenzen sind und nicht Ausdruck von Schwäche. Oft wird der Körper gerade in den Führungs- und Entscheidungsebenen noch wie eine mechanische Maschine gesehen.

Kann man nach einem Burn-out wieder in den Arbeitsprozess zurückfinden?
SCHMIDT: Das ist ganz hervorragend möglich und kann sogar ein Gewinn werden, auch für das Umfeld. Denn man kann durch Interventionsstrategien einüben, wie man sensibel auf körperliche Signale achten und dann in eine gute Balance zwischen Engagement und Abgrenzung finden kann.
In meinen Augen ist es eine große Gefahr, Burn-out nur als individuelles Problem anzusehen, ebenso aber auch, es nur als Ergebnis von stressigen Umständen zu betrachten. Dann könnte man ja nur noch aussteigen. Man kann lernen, gezielte Strategien zu entwickeln, um mit den äußeren Umständen, die man nicht selbst ändern kann, gut umzugehen. Dann können Betroffene kompetent gesundheitsförderlich auf solche Situationsbedingungen reagieren.

Es geht also nicht darum, Umstände zu verändern, sondern Menschen zu stärken?
SCHMIDT: Wo man die Umstände ändern kann, sollte man das angehen. Das Problem ist aber bei vielen, die in ein Burn-out kommen, dass sie sich als Opfer der Umstände sehen und meinen, dass sie keine Chance haben. Wenn sie dann scheitern, weil sie zu starre Strukturen vorfinden, werden sie immer hilfloser.
In manchen Betrieben dürfen am Wochenende keine Mails verschickt werden und Montagmorgen ist der Server dann verstopft von den Mails, die am Wochenende geschrieben wurden. Da geht es dann um eine veränderte Haltung. Strukturelle Änderungen müssen mit einer Haltungsänderung beim Individuum versehen werden. Das ist ein Wechselspiel.

Es ist ein sehr vielschichtiges Thema.
SCHMIDT: Ja, und es geht um existenzielle Grundfragen, letztlich um Sinnfragen. Wenn jemand in ein Burn-out rutscht, gibt er schon länger nonverbal Signale – schlechte Stimmung oder Anspannung, dass er keinen Sinn mehr sieht. Wenn man diese Sinnfrage bei der Therapie nicht beachtet, ist der Prozess nicht sehr nachhaltig. Viele sagen hinterher: Das Burn-out war die Chance meines Lebens!

Vielen Dank für das interessante Gespräch.
Gabi Ballweg

Gunther Schmidt
Jahrgang 1945, Facharzt für psychotherapeutische Medizin, leitet das Milton-Erickson-Instituts  in Heidelberg und ist ärztlicher Direktor der SysTelios-Privatklinik für psychosomatische Gesundheitsentwicklung. 
Schmidt gilt als Pionier der systemisch-lösungsorientierten Beratungsansätze. Seit über 20 Jahren ist er national und international auf dem Gebiet des Coachings und der Organisationsberatung und -entwicklung sowohl in direkten Konsultationen für Unternehmen als auch in der Weiterbildung tätig.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2014)
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