20. März 2014

Grenzerfahrungen

Von nst1

Während wir an den letzten Seiten dieser Ausgabe arbeiten, laufen in Sotchi die Olympischen Winterspiele. Viele fiebern mit: Ob die eine Medaille erringen und das Ergebnis noch überbieten? Die Sportler selbst gehen an ihre Grenzen, wollen sich selbst und andere übertreffen, das Letzte aus sich herausholen und sich für viele Mühen belohnen. Und nicht nur vom Sport wissen wir, dass Grenzen und ihre Überschreitung eine gewisse Faszination ausüben.

Auch in dieser Ausgabe geht es oft um Grenzen; am auffälligsten im Gespräch: Burn-out entsteht in unserer Arbeitswelt, die Effizienz und Perfektion, ständige zeitliche und örtliche Flexibilität, unbedingte Belastbarkeit und Gesundheit verlangt, dort, wo Grenzen beständig überschritten werden. Gunther Schmidt macht jedoch deutlich, dass nicht die Schwachen gefährdet sind, im Gegenteil: Die besonders Verantwortungsbewussten und überdurchschnittlich Engagierten sind betroffen. Burn-out ist für ihn eine Warnlampe, die signalisiert: Pass auf, da läuft etwas aus dem Ruder! Und im Anschauen der Grenze sieht er die Chance, zu neuer Balance zu finden.

Grenzen überwinden – zeitliche, räumliche, der Disziplin, des Wissens, des Könnens: Dieses Streben kennzeichnet die Menschheitsgeschichte. Darauf beruht der Fortschritt. Dennoch ist der Mensch dabei immer wieder in Gefahr, jegliche Grenze, die ihm die Natur auferlegt, zu überschreiten. Träumen wir nicht alle von grenzenloser Freiheit, sehnen uns nach grenzenloser Liebe, wollen die biologischen Grenzen des Alters, die Krankheit, das Leid nicht wahrhaben? Wahrscheinlich hat genau diese Sehnsucht die belgischen Abgeordneten geleitet, aktive Sterbehilfe bei Kindern und Jugendlichen in ihrem Land zu legalisieren. Wie wir diese Grenzüberschreitung sehen, können Sie im offenen Brief an den belgischen Premierminister lesen.

Auch persönlich stoßen wir immer wieder an Grenzen: zeitliche und finanzielle, physische und psychische. Verworrene Situationen, Konflikte, komplexe und unübersichtliche Zusammenhänge überfordern uns. In Kinshasa haben Fokolare sich einer solchen Situation gestellt, sie bewusst mit den Betroffenen geteilt und eine ungeahnte Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität ausgelöst. Geteilte Grenzen gaben vielen die Möglichkeit, sich einzubringen.

Grenzen gehören zum Menschsein. Sich ihnen zu stellen, fällt nicht leicht, darin auszuhalten noch viel weniger. Interessanterweise liegt aber wohl genau darin auch die Chance zu neuen Entdeckungen der Unendlichkeit, wie sie Etty Hillesum gemacht hat.

„Mehr war nicht drin heute!“ Diese Aussage eines Sportlers in Sotchi hatte in meinen Ohren etwas Befreiendes, Starkes. Sich den eigenen Grenzen stellen, könnte eine gute Übung für die anstehende Fastenzeit werden. Vielleicht liegt genau darin die Chance zu mehr Gleichgewicht, mehr Solidarität, mehr Gemeinschaft, mehr innerer Ruhe und Gelassenheit. Und vielleicht braucht unsere Gesellschaft heute genau das: Menschen, die zu und in Grenzen stehen und genau deshalb stark sind.

Ihre

Gabi Ballweg

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2014)
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