20. Januar 2009

Wenn unzeitgemäß, dann ganz

Von nst_xy

Seit Menschen in der Lage sind, über die Zeit und ihren Lauf nachzusinnen, suchen sie wohl auch nach Mitteln und Möglichkeiten, diesen Lauf zu beeinflussen, ihn aufzuhalten oder aus ihm auszubrechen. Vor einigen Jahren machte das Wort von der Entschleunigung die Runde. Dahinter steckte die Überzeugung, dass es möglich sein müsste, zumindest die so genannte „gefühlte Zeit“ zu beeinflussen. Intensiv gelebte Momente, also das Sich-ganz-in-die-Zeit-Hinein-geben, können in der Tat der Zeit Momente der Ewigkeit entlocken.
Eine andere Weise, sich der Zeit zu entziehen, begegnet Ihnen in dieser Ausgabe der NEUEN STADT: Wenn man schon die Zeit nicht anhalten kann, warum nicht selbst stehen bleiben und die Zeit weiterlaufen lassen? Sich der jeweiligen Zeit zu verweigern und sie weiterlaufen zu lassen, ist gewiss nicht leicht. Schnell gilt man als rückständig, altmodisch, unzeitgemäß. Und wer zurückbleibt, verpasst in unseren modernen und schnelllebigen Gesellschaften den Anschluss und hat verloren.
Und doch hat es sie zu allen Zeiten gegeben: diese Rückständigen, Sonderbaren, Unzeitgemäßen, die es nicht nur erleiden oder erdulden, dass die Zeit an ihnen vorbeiläuft, sondern die diesen Aussonderungsweg geradezu suchen – und sei es nur, um der breiten Masse der im Strom der Zeit Mitschwimmenden zu verdeutlichen, dass es auch anders geht.
In unseren Tagen scheint sich ein neues Interesse an den derart Zurückgebliebenen oder Zurückbleibenden zu entwickeln. Herbert Lauenroth zählt sie in seinem Essay über einen verstorbenen Freund zu den sogenannten „neuen monastischen Individuen“, die seiner Meinung nach „an der Wiedergeburt einer humaneren Kultur aus dem Geist des mönchischen Bildungsideals möglicherweise einmal entscheidenden Anteil haben werden.“
So scheinen die lange als rückständig betrachteten monastischen Lebensformen wieder attraktiv zu werden. Singende Priester und Mönche haben es ins Fernsehen und in die Charts gebracht. Allerdings zeigt gerade dieses Beispiel, dass unzeitgemäße Gestalten auch riskieren, vom Modetrend vereinnahmt und so ihrer attraktiven Unzeitgemäßheit beraubt zu werden.
Zu den unzeitgemäßen Gestalten in dieser Ausgabe gehören gewiss der Maler Wassily Kandinsky,
dem gerade eine empfehlenswerte Ausstellung gewidmet ist (S.12 Print-Ausgabe); der deutsche Bischof Reinhard Pünder, der seit 30 Jahren unter schwierigsten Bedingungen im brasilianischen Urwald eine Diözese aufbaut; die Ärztin Reginamaria Eder, die sich in einem der am härtesten geprüften afrikanischen  Länder für ein funktionierendes Gesundheitssystem einsetzt.
Ob diese Menschen hinter ihrer – und unserer Zeit – zurückgeblieben sind oder ihr vielleicht schon immer weit voraus waren, lässt sich bei genauer Betrachtungsweise nicht so leicht entscheiden, ist aber auch nicht maßgeblich. Richtig ist: Sie alle sind sich selbst treu geblieben. Und genau das ist der Weg, auf dem wir sie einholen können – egal in welche Richtung!
Dafür wünsche ich Ihnen von Herzen viel Erfolg im neuen Jahr 2009,
Ihr
Joachim Schwind

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2009)
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