10. Mai 2009

Nach oben offen

Von nst_xy

Kaum etwas kann so schlimm sein, wie die Nachricht, dass ein ungeborenes Kind nicht mehr lebt. Familie A. hat diese Erfahrung gemacht. Ihren John bezeichnen sie als Geschenk, das ,nach oben’ verweist, und den Abschied im fünften Monat als starke gemeinschaftliche Erfahrung.

Vielen Dank! Es war für uns eine bewegende Erfahrung, Sie bei Ihrem ganz persönlichen Abschied begleiten zu dürfen.” Diese Worte hatte das Beerdigungsinstitut unter die Rechnung geschrieben – und nicht alle Positionen berechnet. Als John A. am 1. Mai 2008 geboren wurde, lebte er schon nicht mehr: 22. Woche, Knoten in der Nabelschnur.
Auch nach einem Jahr wird seine Familie noch auf John und sein Grab im „Sternenfeld”, – dem Friedhofsplatz für Frühgeborene und Babys – angesprochen. Birgit und Jochen A. hatten bereits vier Kinder zwischen fünf und zehn Jahren, als John sich überraschend ankündigte. Er war nicht geplant und lange hatte Birgit die erneute Schwangerschaft nicht bemerkt. „Das mag man kaum glauben; aber so war es!”, sagt sie entwaffnend offen und meint nachdenklich: „”Vielleicht wollte ich es ja auch einfach nicht wahrhaben. Ich werde bald 47 und wollte nicht nur aus diesem Grund kein weiteres Kind mehr”, fügt sie erklärend hinzu. Zunächst habe sie gedacht, es seien die Wechseljahre. Die typischen Anzeichen einer Schwangerschaft waren jedenfalls erst einmal ausgeblieben. Kurz vor der Erstkommunion ihrer beiden Mittleren dämmerte es ihr dann aber doch. Als sie schließlich zum Arzt ging, meinte der in etwa: „Herzlichen Glückwunsch, die Hälfte haben Sie schon geschafft!” Wie diese Nachricht für sie war? „Ein gewaltiger Schock!”, erklärt Birgit unumwunden. Aber sofort sei ihr auch klar gewesen: „Zurück schicken wir niemanden!” Leicht zu verdauen war es dann aber offensichtlich trotzdem nicht. Obwohl die wortgewandte Frau sich gerne und oft an den Computer setzt und Mails an ihre Freunde schickt, brauchten Birgit und ihr Mann eine Woche, bevor sie die Nachricht auch mit anderen teilen konnten.
Die Infomail ging außer an die Familienangehörigen auch an viele Freunde aus der Fokolar-Be-wegung. Schon vor vielen Jahren hatten Birgit und Jochen die Bewegung kennengelernt. Gerade die gemeinschaftliche Dimension der Fokolar-Spiritualität hatte sie angesprochen. „Dass Jesus hier und heute da sein kann und will, sogar in unserem ganz normalen Familienalltag”, hat für sie auch nach vielen Jahren noch eine besondere Faszination. Dabei sei ihnen vor allem die Zusage Jesu „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen”1)  wichtig, „und so versuchen wir immer wieder neu, für ihn Platz zu schaffen.” Zuhören, aufeinander eingehen, eigene Wünsche zurückstellen, nicht nur auf die eigenen Kräfte setzen – so beschreibt Birgit, wie das für sie im Alltag aussieht. Dabei helfe ihr auch der Kontakt zu anderen Familien und Freunden, die aus demselben Geist leben.
So war es auch in jener Situation: „Auf unsere Mail kamen Ermutigungen, Glückwünsche, Zuspruch!”, sagt sie noch immer staunend. „Kein einziger sagte: ,Wie konnte das passieren?'” Und sie fährt fort: „Obwohl ich das Gefühl hatte, wenig Kraft für dieses Kind zu haben, begannen wir, uns darauf zu freuen! Langsam brauchte ich ein paar Schwangerschaftsklamotten; die ersten Babysachen wurden bei ebay ersteigert. Wir überlegten, wo das Körbchen hängen würde, und wo man mit fünf Kindern Urlaub machen könnte.”
Unnötige Untersuchungen hatten Birgit und ihr Mann immer abgelehnt. Lediglich einem großen Ultraschall hatte sie ihrem Gynäkologen zuliebe dann doch zugestimmt: alles okay. Die Bewegungen waren inzwischen gut zu spüren. „Zwei Wochen danach stand die nächste Routineuntersuchung an,” erzählt sie weiter. „Ich war ganz gut drauf. Bis dann mein Frauenarzt sagte: ,Ihrem Baby geht es nicht gut’. Ich dachte zunächst: ,Vielleicht behindert?’ und sofort: ,Okay, das schaffen wir auch noch!'”, berichtet sie. Aber nichts habe sie auf die Aussage vorbereitet, die dann kam: „Es lebt nicht mehr.”
Wie „gewaltig” sie das erschüttert hat, kann man nur ahnen: „Auf dem Heimweg ging ich zuerst in die Kirche, und vor dem Marienaltar musste ich ziemlich weinen. Mein Mann bekam in der Firma frei. Ich telefonierte mit meiner Schwester, die Hebamme ist.

Danach wusste ich, dass ich mit der Geburt auch noch ein bisschen warten konnte. Die Zeit, bis mein Mann und die Kinder kamen, nutzte ich für eine weitere Rundmail.

Ich wollte auch diese Entwicklung mit denen teilen, die uns bisher so unterstützt hatten.”
Beim Gedanken daran, was bei einer Geburt alles geschehen könnte, bekam sie Angst und wollte das Sakrament der Krankensalbung empfangen. Da ihr Pastor gerade auf Fortbildung war, feierte ein befreundeter Priester eine Messe mit ihnen. Dabei spendete er Birgit auch die Krankensalbung, und auf einem Spaziergang konnte sie noch beichten. „Danach war ich ruhig und konnte am nächsten Tag auch gut allein im Krankenhaus bleiben. Weil es unserem Dritten nicht gut ging und wir keinen hier in der Nähe haben, musste mein Mann zurück nach Hause,” erinnert sie sich. „Ich dachte, ich würde das Kind schnell zur Welt bringen können. ,Ich will es sehen, und wir wollen es beerdigen’, sagte ich kategorisch sofort zu Beginn.”
Die Hebamme und die Ärztin meinten es gut: „Frauen brauchen bei einer Totgeburt meist ein bis zwei Tage, sie können nicht so schnell loslassen! Lassen Sie sich Zeit!” Nach fünf Stunden hielt
Birgit es nicht mehr aus: „Du musst kommen!”, sagte sie ihrem Mann am Telefon. „Ruf jemanden, der auf die Kinder aufpasst. Ich brauche dich!” Spontan kam einer der Fokolar-Freunde, und nach acht Stunden war sie endlich nicht mehr alleine. Die Gegenwart ihres Mannes gab ihr Kraft, „weil wir einander noch einmal sagen konnten, dass wir auch in dieser Situation so leben wollten, dass Gott unter uns da sein konnte.” Die Hebamme wechselte. Nach weiteren fünf Stunden flehte Birgt sie an: „Sprengen Sie die Fruchtblase, ich will dieses Kind jetzt endlich bekommen!” – Es wirkte: „Um 2.35 Uhr wurde John geboren, und wir waren so glücklich, wie bei jedem unserer Kinder! Als er zwischen meinen Beinen lag, umwickelt von der Nabelschnur, die sogar in einem Knoten um seinen Hals lag, wusste ich: Er kam von Gott!”
Danach bewies die Hebamme viel Feingefühl. Sie maß und wog John, wickelte ihn in ein Badetuch, legte ihn Birgit behutsam auf den Bauch und ließ die Eltern mit ihm alleine, „als sei er ein lebendiges Kind”. Am nächsten Tag kam Jochen dann mit den vier Kindern.

John sah schon nicht mehr so aus wie in der Nacht – das hatten sie nicht bedacht -, aber zwei der Kinder betrachteten ihn intensiv in dem Körbchen, in das die Hebammen ihn liebevoll gebettet hatten.

Und dann? „Wir erkundigten uns nach einem Bestatter”, erzählt Birgit. „Im Gespräch mit ihm entstand die Idee, keinen normalen Kindersarg zu nehmen; John hätte ihn auch gar nicht ausgefüllt. Als ich aus dem Krankenhaus kam, war mein Mann mit den Kindern schon am Werkeln. Die kleine ,Reisebox’ war schnell gezimmert, und jedes Kind bemalte eine Seite und schrieb seinen Namen dazu.” Im Internet fanden sie das Lied, das die Hebamme ihnen nach der Geburt vorgespielt hatte, und die kleine Bücherei hatte es auf CD: „Mich ruft mein Stern.” Als sie es mit den Kindern hörten, wussten sie, es gehörte in ihre „Todesanzeigenmail”, genauso wie ein Foto von dem selbst gestalteten kleinen Sarg. Wieder ging eine Mail rund. Diesmal waren die Reaktionen noch überwältigender: etwa 100 aus fünf Ländern. – Das tat gut!
„Wir kommen zur Beerdigung”, sagten etliche, und Birgit bekam Angst. Sie war schließlich ganz normal im Wochenbett, hatte fast Milchstau, und ihr Baby … – Eine Freundin kümmerte sich um alles: Kaffee, Saft, Kuchen, Brot, Obst, Fotografin, eine weiße Tischdecke auf der Parkbank: Alles war da. „Wir wollen eine kindgerechte, fröhliche Beerdigung”, waren sie sich einig, „ein Fest!”
Die Sonne schien warm, die kleine Kirche aus dem 11. Jahrhundert bildete eine schöne Kulisse. Obwohl Birgit in den Tagen zuvor immer weinen musste, wenn jemand sie ansprach – auf dem Friedhof war das anders: „Da war eine Kraft, die ich nicht nur aus mir hatte.” Wie sie das meint? „Ich hatte einigen unserer Freunde gesagt, dass sie kommen sollten, um diesen Moment mit Jesus in unserer Mitte’ zu leben”, erklärt sie zögernd. „Es ist schwer in Worte zu fassen, aber: die besondere Atmosphäre, oder dass viele uns sagten: Es war eine schöne Beerdigung.” Birgit sucht nach Worten und fährt dann entschieden fort: „Das war nicht, weil wir den Schmerz nicht gespürt hätten! Im Gegenteil: Die Erfahrung mit John hat uns fast umgehauen! Dass wir uns dennoch getragen wussten;
dass wir John bei allem Schmerz als Geschenk erlebten, als ein Mitglied unserer Familie, das schon im Himmel angekommen ist; das kam nicht von uns!”
John ist ein Geschenk! Das steht für die Familie fest. „Die Kinder sprechen oft von ihm, sie machen kleine Lieder und Texte, schmücken sein Grab und hatten auch seinen kleinen Sarg an bunten Kordeln in die Erde gelassen,” erzählt Birgit. „Viele – vor allem Frauen – erzählen von ähnlichen Erfahrungen. Die Gespräche werden intensiver und mehr. John hat viele Beziehungen geschaffen!” Deshalb wissen sie: „Seine Geschichte ist noch nicht zu Ende; sie ist nach
oben offen!”
GabiBallweg
1) Matthäus 18,20

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2009)
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