10. Januar 2010

Die reine Freude

Von nst_xy

Wie wohltuend Menschen mit einer guten Ausstrahlung sind.

Im Amerikanischen gibt es den Begriff der „silent communication“. Damit ist gemeint, was per Ausstrahlung von einem Menschen auf einen anderen „überläuft“. Wobei sich die Begriffssphäre der „stillen Kommunikation“ keineswegs auf Körperhaltung, Mimik, Gestik und das sich darin Ausdrückende beschränkt. Sie umfasst auch Geisteshaltungen und Lebensstile einer Person, die auf ihre Mitwelt ausstrahlen …
Innerhalb der menschlichen Gemeinschaft ist die „silent communication“ von höherem Stellenwert, als man denkt. Es gibt Menschen, die Wohlbehagen um sich herum verbreiten. Bei ihnen „ist gut sein“. Es braucht nichts Besonderes mit ihnen unternommen, besprochen oder durchdiskutiert zu werden, das Besondere ist die Atmosphäre, die sie verbreiten. Eine Atmosphäre, in der jeder frei atmen und er selbst sein darf. Mehr noch, ein Klima, in dem die besten Seiten seines Selbst zum Vorschein gelangen, ohne irgendwie „eingeklagt“ worden zu sein.
Mit solchen Menschen beisammen zu sein ist die reine Freude. Weil sie das Leben lieben, locken sie die Liebe zum Leben hervor. Es ist sehr unwahrscheinlich, keinen einzigen solchen Menschen zu kennen. Steht uns aber der Kontakt mit einem solchen offen, sollten wir uns von Zeit zu Zeit von diesem „verführen“ lassen, indem wir unsere Freude am gemeinsamen Kontakt intensivieren. Es gibt Patientengeschichten, die nichts anderes sind als Geschichten von den falschen Freunden. Stets war da ein guter Kern im Menschen, auf Durchbruch durch eine „angekratzte Schale“ angelegt, und stets hat dann die Verleitung über ihn gesiegt. Die Schlange aus dem Paradies, die auch außerhalb des Paradieses eine große Schauspielerin ist, hat ihre erfolgreichsten Auftritte in der Verkleidung des scheinbaren Freundes. „Sei nicht dumm“, redet sie mit Engelszungen, „wozu schuften, wenn das Geld leichter zu bekommen ist?“, oder: „Probier mal, dieser Trip ist umwerfend, das musst du erlebt haben!“ Aber sie ist zu entlarven, die Schlange, denn die „silent communication“ verrät sie. Was von ihr ausstrahlt, ist in Wahrheit Gleichgültigkeit. Sie liebt nicht. Denjenigen nicht, den sie gerade in ihren Netzen fangen will, und sich auch nicht. Wer die Kälte spürt, die sich hinter ihren Engelszungen verbirgt, der handelt klug, wenn er auf Abstand geht.
Aus diesem Grund ist die Freude an der „silent communication“ nicht nur ein Therapeutikum, sondern sogar ein Prophylaktikum: Sie kann vor vielem bewahren. Gemeinsame Unternehmungen sind wunderbar – solange sich über die „silent communication“ seelisches Wohlbehagen einstellt. Umgekehrt bedarf das Wohlbehagen in der Nähe eines Menschen mit positiver Ausstrahlung nicht einmal gemeinsamer Unternehmungen. Es kann erbaulich sein, einem solchen hin und wieder zu begegnen und ohne Worte zu spüren, was von ihm „herüberkommt“, zum eigenen Sein befreiend.
In gewisser Weise tragen Schweigeübungen, wie sie zum Beispiel während klösterlicher Exerzitien praktiziert werden, dazu bei, jene „silent communication“ fühlbar zu machen. Aus der Sicht Viktor E. Frankls, des Begründers der Logotherapie, kommt der Haupteffekt dabei weniger durch die selbst auferlegte Beschränkung im Reden zustande als vielmehr durch eine Intensivierung der Freude an der Menge dessen, was unabhängig vom Reden zwischen uns Menschen schwingt, insbesondere zwischen Menschen mit dem Charisma der Liebe …
Elisabeth Lukas

aus: Elisabeth Lukas, Der Freude auf der Spur. Sieben Schritte, um die Seele fit zu halten, Verlag Neue Stadt, 160 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-87996-797-1, Bestellen.

Elisabeth Lukas
geboren 1942 in Wien, ist international bekannte und vielfach ausgezeichnete Schülerin von Viktor E. Frankl. Sie hat sich auf die praktische Anwendung der Logotherapie spezialisiert und diese methodisch weiterentwickelt.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2010)
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