10. April 2010

Er hat es nicht verdient

Von nst3

Versöhnung fällt uns schwer. Dabei tut sie vor allem uns selbst gut.

Es ist nicht leicht zu verzeihen! Das merke ich in meiner psychotherapeutischen Tätigkeit immer wieder. Wie oft sagen mir Patienten voller Zorn: „Er hat es nicht verdient!“

Wenn es nicht gelingt, diesen Einwand zu überwinden, dann – so lehrt mich die Erfahrung – ist Versöhnung nicht möglich, und das damit verbundene Problem bleibt ungelöst.

Zum Glück jedoch gibt es ein Argument, das diesen Einwand in aller Regel entkräftet. Auch das habe ich häufig erfahren. Ich sage meinen Patienten: „Sie haben Recht. Der andere hat es nicht verdient, dass Sie ihm verzeihen. Aber die Vergebung ist für Sie mindestens genauso wichtig wie für den anderen. Nur so werden Sie frei von negativen Gedanken und dem Wunsch nach Rache, die vor allem Sie selbst belasten.“

Der südafrikanische Freiheitskämpfer Nelson Mandela sagte, nachdem er 27 Jahre zu Unrecht im Gefängnis gesessen hatte: „Groll hegen ist wie Gift trinken und zu erwarten, dass die Feinde daran sterben.“

In dem Brief, der mich zu diesem Artikel veranlasst hat, schreibt ein Leser, dass er seinem Bruder wegen früherer Erbstreitigkeiten nicht verzeihen könne. Kürzlich sei ein gemeinsamer Freund aus Jugendzeiten gestorben. Er erlebe seinen Bruder seither als sehr schwach.

Dies – so meine ich – ist eine gute Gelegenheit, die Versöhnung mit dem Bruder zu suchen. Beide haben mit dem verstorbenen Freund offensichtlich schöne Momente verbracht. Beide trauern jetzt über seinen Verlust. Diese Gemeinsamkeiten bieten sich geradezu an, die Begegnung zu suchen und die Beziehung zum Bruder neu aufzubauen.

Pasquale Ionata

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2010)
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