12. Juli 2010

Immer und überall – Beziehungen erneuern

Von nst_xy

„netOne“ heißt die internationale Medienplattform der Fokolar-Bewegung. Sie bietet Medienschaffenden, die sich in ihrem Beruf am Ideal der Geschwisterlichkeit ausrichten wollen, eine Gelegenheit zum Austausch. An einem Fachseminar Mitte Juni in Rom nahm auch unser freier Mitarbeiter Winfried Baetz teil. Er schildert seine Eindrücke als Filmemacher und Journalist.

Okay, ich gestehe: Meine Tochter verstehe ich nicht mehr. Über www.facebook.com und www.schuelervz.net ist sie täglich mit hunderten von Leuten im Gespräch. Seit langem bin auch ich dazu eingeladen: von ihr wie von Freunden, Verwandten und Bekannten, deren Gefühle, Beobachtungen, Meinungen, Videotipps, Infolinks und Fotos ich online teilen sollte, und sie meine! Ich jedoch genieße meine Morgenzeitung, dazu Abendnachrichten, berufliche Newsletter und E-Mails, die noch weitestgehend gut ausformuliert sind. Im Web2.0 zu kommunizieren ist, neben der grauenhaften Grammatik, eine Frage der Zeit, dachte ich – bis gestern.
Gestern kam ich aus Rom zurück – nach vier Tagen, in denen ich in verschiedenen Sprachen, teils über Kopfhörer, teils „real“ kommuniziert habe. „Real“ meint: da sein, reden, sich dabei die Hand schütteln, auf die Schulter klopfen – statt auf die Tasten eines PCs. 160 Akteure der Kommunikation – TV-Programmdirektoren, Werbeagenten, Straßenzeitungsmacher, Web-Journalistinnen, Medienjuristen, Regisseurinnen, Fotografen und Programmierer – tauschten sich bei einem Fachseminar aus. Medienleute, die miteinander über ihre Arbeit kommunizieren, sind eine Seltenheit, erst recht, wenn sie aus verschiedenen Arbeitsgebieten kommen. „In pursuit of dialogue“ – in Ausübung des Dialogs, so der englische Titel der Tage, „prove del dialogo“ – Beweise für den Dialog, der italienische.
Während der Diskussionsforen geben junge Medienmacher im Publikum laufend online Nachrichten weiter, mit dem Notebook auf dem Schoß: „Gerade berichtet Regina aus Nigeria, wie sie versucht hat, mit 70 Schauspielern einen Film in Süd-Niger zu drehen.“ Und an der kurzen Nachricht hängt auch schon ein Tonmitschnitt der Diskussion. Regina Ohiama Idu, kaum 25 und schon Regisseurin! Eine der wenigen Frauen, die in Afrika Filme machen. Für die BBC hat sie einen Aufklärungsfilm über AIDS gedreht, der jetzt in ganz Nigeria läuft. Wir kommen über ihre Projekte ins Gespräch und wie sie versucht, Filme zu machen für den großen Markt der afrikanischen Familien. „Dafür muss ich schon am Set eine ganz persönliche Beziehung zu Schauspielern und Technikern suchen; und gleichzeitig eingebunden sein in diesem weltweiten netOne-Netz.“
Fliegender Wechsel im Saal: Aus dem Publikum auf die Bühne und wieder zurück. Jeder hat etwas beizutragen. Wie Regisseur Fernando Muraca, der sich auf die Produktion eines bescheidenen Backstagefilms einließ. Schauspieler und Bühnenbauer lernten ihn dabei kennen und steuerten dann gratis zur Realisierung des Kinofilms bei, für den ihm noch viel Geld fehlte. Kollege Eugenio Cappuccio erzählt mir beim Kaffee ohne Allüren von der „besonderen Atmosphäre“ seiner Filme, mit denen er auf dem stark geschrumpften italienischen Markt gut ankommt: „Kino soll das Unsichtbare verkörpern, Visionen der Geschwisterlichkeit,“ bekennt er. Sein Musikerfreund Enrico Sabena hat den Soundtrack zum Filmmassaker in „My Lai Four“ geschrieben; als er uns nun eine vietnamesische Augenzeugin vorstellt, hat uns die Realität emotional eingeholt.

Viele kämpfen unter Lebensgefahr an Orten, wo die freie Meinungsbildung verhindert wird.

„Die Wahrheit will gefunden werden,“ heißt es. Der kolumbianische Kollege Javier Osuna Sarmiento erhielt für seine Website verdadabierta.com über Paramilitärs und bewaffneten Konflikt sowie seine Zeitungs-Reportage „Zum Schweigen gebracht“ einen Pressepreis. Als er die Namen der ermordeten Journalisten vorliest, wird allen bewusst, vor welchen Herausforderungen wir Medienleute stehen, nicht nur im weltweiten Netz.
In den Pausen diskutieren wir mit dem Rundfunkprofessor Hector Garcia Ospina aus Bogotà, dem Netzwerker Daniel Binder aus Wien, dem Macher von Weltkriegsdokumentationen Victor Curzel aus Trient. „Was nicht kommuniziert wird, ist verloren,“ heißt eine Maxime der netOne-Teilnehmer. Und wer nicht kommuniziert, auch. Wir hören von AfricaTimesNews.com, einer Initiative von Wirtschaftsjournalisten, die ambitionierte Lokaljournalisten fördert, oder über unsere tägliche weltweite Online-Videoschaltung von „Edu-Kommunikation“: Damit geben Medienschaffende aus Südamerika, Korea, Italien oder der Slowakei denen eine Stimme, die keine haben. Mit originellen Initiativen ermöglichen sie Kindergartenkindern wie Jugendlichen, Armen und Flüchtlingen einen selbstbewussten Zugang zu Zeitung, Radio, Fernsehen und Internet.

Keine Frage der Zeit: Sofort, immer, überall Beziehungen erneuern. Für die breite Palette junger Akteure im Medienberuf, die da in Rom zusammengekommen war, ist Mitteilen Leben.

Langsam erahne ich, wie die „eine Welt“ sich verwirklicht: im ständigen Austausch. So gesehen habe ich die Welt meiner Tochter etwas vernachlässigt.
Winfried Baetz

Weitere Infos: www.net-one.org

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2010)
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