10. Oktober 2010

Sitzen mit Gewinn

Von nst_xy

Die Schweizer Firma TERGON stellt seit zehn Jahren Bürostühle her. Von Anfang an arbeitet sie nach den Kriterien der “Wirtschaft in Gemeinschaft”.

Sie wollten ein Unternehmen gründen, hatten eine Idee und 200.000 Schweizer Franken Startkapital. Aber ob das reicht, um auf dem Markt landen und vor der Konkurrenz bestehen zu können? Georg Endler und Waldemar Silfest wussten: Nur ein kleiner Teil der Neugründungen schafft tatsächlich den Sprung, die meisten machen Pleite.

Montet, ein kleiner Ort im Schweizer Kanton Freiburg, im Jahr 1999: Georg Endler war seit kurzem Geschäftsführer der Firma „Montet Bois”, die Kunsthandwerk aus Naturholz herstellte. Der Betrieb sollte den jungen Leuten nebenan im Begegnungs- und Bildungszentrum der Fokolar-Bewegung Arbeit verschaffen und ihren Lebensunterhalt sichern helfen. Aber die Produkte verkauften sich von Jahr zu Jahr schlechter; so konnte es nicht weitergehen!

Früher hatte Georg Endler in Deutschland in der Stuhlbranche gearbeitet. Er begann, Kontakte zu Zulieferfirmen aufzunehmen, Module für die Stuhlmechanik, Formschaum für die Polsterung von Sitz und Lehne sowie Stoffe auszuwählen, einzelne Elemente zu verbessern und auf diese Weise ganz neue Bürostühle zu entwickeln.

Nicht nur bequem sollten sie sein, sondern auch ergonomisch; einfach zu verstellen, damit auch längeres Sitzen dem Körper möglichst wenig schadet.

Rückenschmerzen und Verspannungen sollten der Vergangenheit angehören. Damit wollte er die Kunden überzeugen.

“Tergon” sollte die neue Firma heißen. Da steckt das Wort „Ergonomie” drin, und gedanklich schwingt Technologie und Standfestigkeit mit. Waldemar Silfest, Pensionär aus München, hatte als Bankdirektor Aufbau und Finanzierung vieler mittelständischer Firmen begleitet. Mehr noch als die Bürostuhl-Idee begeisterte ihn das wirtschaftliche Konzept, mit dem das neue Unternehmen geführt werden sollte. Davon war er so angetan, dass er bei der Suche nach dem nötigen Startkapital erstmal seine eigenen Ersparnisse mit einbrachte. Dank seiner Erfahrung konnte er Georg Endler beim Aufbau des Betriebs beraten; dafür garantieren, dass er bald florieren würde, konnte jedoch auch er nicht: „Das weiß man vorher nie. Aber ich bin im Leben immer davon ausgegangen: Wenn Gott etwas Neues will, dann wird er es auch schützen und begleiten.”

Sein Glaube wurde bald auf die Probe gestellt. Denn die Vorstellung, dass sie vom beginnenden Internet-Boom profitieren könnten und die Stühle sich über das Web „fast wie von selbst verkaufen” würden, erwies sich schnell als Fehlschluss. Heute weiß es Georg Endler besser: „Die Leute wollen zumindest einmal probegesessen haben, bevor sie den Stuhl kaufen.”

Der erste Tergon-Stuhl wurde vor genau zehn Jahren verkauft, im Oktober 2000. „Ein Freund aus München war der erste Kunde”, erinnert sich Georg Endler. „Er hat gleich einen teuren Chefsessel bestellt, und hat uns damit viel Mut gemacht!” Aber das war es dann auch vorläufig: Kaum jemand interessierte sich für die Bürostühle. Die Firma war noch zu neu und unbekannt.

Unterdessen machte sich Waldemar Silfest Sorgen um die Finanzierung des Projekts. Mehr Kapital war dazu nötig, aber woher sollte er es nehmen?

„Eines Nachts bin ich wach geworden und hatte den Einfall mit den Partizipationsscheinen.”

Schon zuvor war klar: Tergon sollte ein Betrieb der „Wirtschaft in Gemeinschaft” sein (siehe unten). Sollte die Firma einen Gewinn erwirtschaften, würde ein Teil davon in das benachbarte Begegnungsund Bildungszentrum fließen, mit einem anderen Teil wollten sie Bedürftigen unter die Arme greifen.

Waldemar Silfest begann, die Pläne auf Vortragsreisen bekannt zu machen und die Zuhörer als „Aktionäre” für den neuen Betrieb zu gewinnen: Sie sollten Anteilsscheine zu je 400 Schweizer Franken erwerben und dafür später am Gewinn beteiligt werden. Tatsächlich fanden sich rund hundert Personen, die dem Vorhaben Vertrauen schenkten und Partizipationsscheine kauften. Mit den Beträgen konnte Tergon sein Kapital tatsächlich erhöhen. Aber reichte das, um die erste Durststrecke zu überwinden?

Wieder waren es zunächst persönliche Beziehungen, über die Tergon seine Ware los wurde: Ein alter Geschäftspartner aus der Bänker-Zeit von Waldemar Silfest wurde auf seine neue Tätigkeit aufmerksam. Aus lauter Freude über das Wiedersehen versprach er, sein gesamtes Unternehmen mit neuen Bürostühlen auszustatten. Tatsächlich trudelte bald eine Bestellung im Wert von mehreren 10 000 Euro ein: Der erste Großauftrag! Endler und Silfest schöpften neue Hoffnung. Weitere Aufträge, die ein Überleben der neuen Firma längerfristig gesichert hätten, blieben jedoch aus.

Wieder wachte Waldemar Silfest eines Nachts auf, getrieben von der Frage: „Warum nur kommt das neue Unternehmen nicht auf die Beine?” Hatte er nicht alles in der Überzeugung getan, dass die Hand Gottes dahinter steckte? Er rang sich durch, dazu „Ja” zu sagen: Er war bereit, die Pleite zu akzeptieren! Aber sogleich drängte sich ein zweiter Gedanke auf: Müsstest du dann nicht zu den „Aktionären” gehen, denen du versprochen hast, ihr Geld sei gut angelegt, und alles habe Hand und Fuß, und ihnen eingestehen, dass du dich geirrt hast? Auch dazu rang er sich durch. Er war bereit, sie aufzusuchen, ihnen zu sagen, dass sie ihr Geld in den Sand gesetzt hatten, und so sein Gesicht zu verlieren. Doch dazu kam es nicht. „Eine Woche später gingen plötzlich die lang ersehnten Aufträge ein”, berichtet Waldemar Silfest und wundert sich noch heute darüber.

Auch das Problem des Vertriebssystems löste sich. Bald fanden sich die ersten Verkäufer, die auf Firmen zugingen und ihnen die Tergon-Stühle zum Test anboten. Sie hatten Erfolg: „Die Kunden ersitzen die Vorteile, die die Stühle haben,” behauptet Georg Endler. „Es ist rein das Produkt, das überzeugt.” Auch Betriebsmediziner bescheinigten den Tergon-Stühlen in mehreren Gutachten gesundheitlich „hervorragende Eigenschaften”. Endlich, nach fünf langen Jahren, schrieb die Firma schwarze Zahlen. Zum ersten Mal konnte Tergon auf jeden Partizipationsschein fünf Prozent Dividende ausschütten.

Heute hat Tergon rund dreißig Mitarbeiter, verkauft 5000 Stühle im Jahr und hat 2009 einen Jahresumsatz von über drei Millionen Schweizer Franken (ca. 2,2 Millionen Euro) gemacht.

Große Firmen wie Migros und die Schweizer Bundesbahn konnte sie von ihrem Sitzkomfort überzeugen; in Deutschland interessiert sich die Hessische Polizei für den „Stuhl der sitzt”, wie der Werbeslogan sagt. Zehn Millionen Varianten stehen zur Auswahl, heißt es im Prospekt, denn die Kunden können die Stühle nach Wunsch mit unterschiedlichen Sitzbezügen, Farben, Rollen, Sitzmechaniken, Armlehnen und Kopfstützen kombinieren. Im Angebot sind mehrere Modelle vom einfachen Besucherstuhl fürs Wartezimmer bis zum hochwertigen Ledersessel für den Manager. Eins davon verkauft sich von Anfang am Besten, sagt Georg Endler, ein Bürostuhl mit der Bezeichnung T4.0: „Der macht 70 bis 75 Prozent unseres Umsatzes aus.”

Und wo wollen Sie in den nächsten zehn Jahren stehen? Die Frage bekommt Georg Endler zum zehnjährigen Jubiläum der Firma oft zu hören. Aber die übliche Antwort – wir wollen unseren Marktanteil erhöhen, den Umsatz steigern, den Gewinn vermehren – ist nicht sein Ding: „Wachstum nur, wenn’s wirklich sinnvoll ist”, meint Endler. Wichtig ist ihm, dass die Arbeitsplätze erhalten bleiben und Tergon die selbstgesteckten Ziele als Betrieb der „Wirtschaft in Gemeinschaft” weiter verfolgen kann. „Aber theoretisch könnten wir uns schon noch verdoppeln. Genug Räumlichkeiten zumindest hätten wir.

Clemens Behr

Die „Wirtschaft in Gemeinschaft” (WiG),

eine Initiative der Fokolar-Bewegung, will dazu beitragen, eine menschlichere Gesellschaft aufzubauen und die Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern. Sowohl Unternehmer als auch Investoren, Angestellte, Arbeiter und Verbraucher können sich auf ihre Weise daran beteiligen. Anders als bei einem rein konsum- und profitorientierten Wirtschaften stellt die WiG den Wert und die Würde des Menschen in den Mittelpunkt. Daher werden alle Beziehungen unter den Mitarbeitern einer Firma, aber auch zu Kunden, Lieferanten und Konkurrenten besonders wertgeschätzt und gepflegt. Die Unternehmen der WiG arbeiten zwar auch gewinnorientiert, setzen ihren Gewinn jedoch für drei Ziele ein: Mit einem Teil unterstützen sie Menschen in wirtschaftlichen Notlagen, einen anderen Teil investieren sie in die Verbreitung einer Kultur des Gebens und der Geschwisterlichkeit, und mit einem weiteren Teil sichern sie den Fortbestand und die Weiterentwicklung der eigenen Firma und damit auch der Arbeitsplätze. Weltweit beteiligen sich rund 700 Unternehmen an der „Wirtschaft in Gemeinschaft”, in Deutschland sind es ca. 30, in Österreich 8 und in der Schweiz 17.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Oktober 2010)
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